Lärm in München:Alles andere als "Stille Nacht"

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Es gibt sehr laute Orte in München - und sehr stille. (Foto: Stephan Rumpf)

Im Englischen Garten machen die Gänse Krach, am Mittleren Ring die Lastwagen und in der Fußgängerzone die Menschen. Wo ist es laut in der Nacht und wo leise? Ein Streifzug durch die Stadt mit einer Lärm-App.

Von Laura Kaufmann

Nur ein paar Schritte weg von der Mandlstraße, weg vom Asphalt ins weiche Gras, ist die Welt eine andere. Weit weg ist das gedämpfte Tassenklirren des schließenden Christkindlmarkts, weit weg ist die Feilitzschstraße, auf der Kneipengänger draußen stehen, rauchen, reden. Die Welt, die einen hier schluckt wie ein schwarzes Loch, ist die der Stille.

Stille Nacht, 1818 in einer Kirche in Oberndorf bei Salzburg uraufgeführt, ist das bekannteste Weihnachtslied der Welt. An den Feiertagen werden es Menschen um den Globus auf Katalanisch und Rumänisch, auf Isländisch und Hawaiianisch singen. Das Lied über die jungen Eltern, die an der Krippe ihres Neugeborenen wachen, während um sie herum alles schläft. Aber findet sich in einer Großstadt wie München noch eine stille Nacht? Wo ist es still, wo ist es laut? Messen lässt sich die Lautstärke heute leicht mit dem Smartphone - ein Streifzug durch die Dunkelheit mit der App "Decibel 10th".

Mit einer Geräusche-App durch die Stadt
:Lärm in der weihnachtlichen Stille

Die "Stille Nacht" ist eher Utopie als Realität - doch der meiste Lärm ist von Menschen gemacht.

Im Grünen ist es vergleichsweise still

Hier, am Kleinhesseloher See, ist es ruhig. Die Menschen sind nach Hause gegangen oder eben in die Kneipe. Nichts regt sich im Englischen Garten. Nichts, was sich in der Dunkelheit erkennen ließe. Dann zerreißt der heisere Schrei einer Gans die Stille. Wie als Antwort darauf quaken beruhigend ein paar Enten, dann - Flügelschlagen aus einer anderen Richtung, Wasserschwappen - landen sie auf dem See. Eine entfernte Straße legt Grundrauschen unter ihr Geplänkel. Zwischen "Quiet Home" und "Quiet Street" springt die App hin und her, ruhiges Zuhause, ruhige Straße. Um die 50 Dezibel laut ist es noch in der Stille. Der Mond scheint hell in dieser Nacht. Er lässt die Wolken rötlich leuchten, lässt die Umrisse der nahen dürren Äste erkennen.

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An der Landshuter Allee spielt das Mondlicht keine Rolle. Unter Straßenlaternen rauschen Autos und Busse an kastenförmigen Bauten vorbei, Scheinwerferlicht auf nassem Asphalt. Es hört sich so an, wie es sich an einer Autobahnraststätte anhört, gemäßigter natürlich; ein auf- und abschwellendes Donnern. Die App zeigt durchschnittlich zwischen 75 und 84 Dezibel an. Ein schwerer Reisebus bringt es auf 93. Zweimal geht der Blitzer los.

In der Fußgängerzone ist der Lärm ein anderer, ein menschengemachter. Leute flanieren vom Marienplatz zum Stachus und umgekehrt, obwohl die Christkindlmärkte längst geschlossen sind und die Geschäfte erst recht. Sie reden aufgedreht lachend auf Englisch, Finnisch, Japanisch. Vielleicht sind sie auf dem Weg zum Hotel, zumindest die mit den ratternden Rollköfferchen. Oder zu dem Club in einer Seitenstraße oder zu den Pubs und Restaurants um die Frauenkirche.

Ruhige Straßen in der Vorstadt

"Imagine all the people, living life in peace", singt ein Mädchen mit Gitarre, sie sitzt im Eingang eines Schuhgeschäfts, eingerahmt von 20-Prozent-auf-alles-Schildern. Eine Rikscha im Look eines Fischerboots rollt vorbei, aus den Boxen dröhnt "Eye of the Tiger". Ein Schuhgeschäft weiter spielt ein Duo mit Geige und Ziehharmonika, ein Grüppchen junger Frauen in schwarzen Kleidern und Stöckelschuhen klappert über das Pflaster. "Average quiet street, normal conversation", sagt die App; normale Straßen- und Konversationslautstärke.

Eine normale, ruhige Straße, so etwas findet sich in der Vorstadt zuhauf. In Harlaching zum Beispiel, vom Authariplatz ein paar Schritte ins Dunkle gelaufen. Eine Straße, die so auch in Gern oder Waldperlach sein könnte. Haus an Haus, Gartenzaun an Gartenzaun. Knirschende Kieselsteine unter den Schuhen, liegen geblieben von einer längst vergessenen Streuaktion. Fuchs und Hase müssen sich hier irgendwo eine gute Nacht wünschen, aber man hört sie nicht. Nur die Straße rauscht leise. Straßen, die Meere der Großstadt. Nur ohne Romantik. Um die 40 Dezibel misst die App, ähnlich wenig wie am Kleinhesseloher See im Englischen Garten. Quiet Street.

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Der Kampf gegen den Lärm wird in München an verschiedenen Schauplätzen gefochten. An der eben besuchten Landshuter Allee zum Beispiel. Anwohner gegen Straßenlärm. Und auch hier am Gärtnerplatz. Anwohner gegen Partylärm. Aber in der staaden Zeit herrscht Waffenstillstand. Nicht einmal alle Bänke um das begrünte Rondell sind besetzt. Vor dem zugedeckten Brunnen kichern dunkle Silhouetten, "Mann, was soll das", faucht einer von der Bank, als sich ein Kumpel von hinten anschleicht. Aus ihren mitgebrachten Boxen klopft leiser HipHop, ein Stadtbus schiebt sich zischend um die Kurve. Menschengrüppchen, die in und aus Bars gehen. 60 bis 64 Dezibel, normale Konversation.

Weiter in die Müllerstraße, in die Schlange vor einer dieser Bars. Das "Schhhhhhhhh" des Türstehers windet sich wie eine Schlange um die Wartenden. "Kannst du mal?", sagt eine Betrunkene weinerlich und streckt ihrem Begleiter Schuh samt offenem Schnürsenkel entgegen. "Kannst du nicht selber?", fragt er seufzend zurück. Die Tram klingelt sich ihren Weg durch die Menge, ein Taxifahrer fährt rechts ran. Um die 70 Dezibel misst die App in der Schlange bei besonders lauter Lache, "wer bitteschön reist denn nach Berlin?" Alles im Normalbereich.

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An der Isar gibt es fast jeden Lärmpegel

Stiller ist es an der Isar, bei der Reichenbachbrücke. Auf dem schlammigen Weg dorthin, wo sich im Sommer das pulsierende Stadtleben abspielt, huscht eine meerschweinchengroße Ratte vorbei. Von der Brücke fallen Wortfetzen herunter, auf einer Bank am Weg sitzen zwei Biertrinker und unterhalten sich über Bob Ross und Raumstationen.

Aber das Ufer der Isar, in rötliches Licht getaucht, ist eine Blase abseits des Geschehens. Nebel kriecht über das Gras, die Scheinwerfer der fern wirkenden Autos verfangen sich als Kegel darin. Die Isar rauscht und gluckst wie ein frecher Wassergeist, mischt sich mit dem Rauschen der Straße. Laut der App ist es so leise wie im Englischen Garten, irgendwo zwischen ruhiger Straße und Zuhause. Der Baumstumpf, im Sommer beliebter Treffpunkt, sieht aus den Augenwinkeln ein wenig so aus, als wolle er mit seinen Wurzeln zugreifen. Die stille Welt verteidigen.

Der harte Kontrast findet sich ein in einem Laden am Sendlinger Tor, ein Mix aus Bar und Club; ein DJ legt auf, ein paar Leute tanzen, die meisten unterhalten sich. Wie man sich eben unterhalten kann, wenn man neben einem Küchenmixer steht. Das sagt zumindest die App: Sie schwankt hektisch zwischen Mixer-, Motorrad- und U-Bahn-Lautstärke hin und her, 90, 95 Dezibel. Gehörschäden bei langfristiger Einwirkung drohen ab 85 Dezibel, bei kurzfristiger ab 120.

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Wo ist sie nur, die stille Nacht? Zurück in die Fußgängerzone, die sich um vier Uhr morgens endlich beruhigt hat, die Straßenmusiker sind nach Hause gegangen. Aber immer noch streift hier Partyvolk durch, das Klappern ihrer Schuhe und ihre Stimmen hallen jetzt in der breiten Neuhauser Straße. Eine Pfandsammlerin leuchtet mit ihrer Taschenlampe in die Mülleimer. Weitergehen. Mächtig ragt die Frauenkirche in den Himmel. Eintreten, hinaufgehen, besinnen, innehalten, steht auf ihren Stufen geschrieben.

Zwei Halbstarke pinkeln an die Hauptwache der Polizei. Ihr Kichern ist auch vor dem Haupteingang des Doms noch gut zu hören. Abgesehen davon ist es ruhig. Als atme die Kirche Stille aus. Nur 35 Dezibel misst die App an dem imposanten, reich verzierten Holztor. Das Ohr an den Eingang gepresst, hört man nur das eigene Blut rauschen. Dort drinnen muss sie sein, wohlbehütet. Die Stille Nacht.

© SZ vom 24.12.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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