Moderne Zeiten:Lärm lässt sich nicht nur in Dezibel messen

Rekorde rund ums Fest

Selbst im Weihnachtslied "Stille Nacht" heißt es am Ende: "Durch der Engel Halleluja / tönt es laut von fern und nah".

(Foto: dpa)

Die Muße wird heute von der Ruhezone ersetzt. Doch so groß die Sehnsucht nach Stille sein mag, sie ist unerfüllbar.

Essay von Johan Schloemann

Die Leute sagen gerne, sie wollten "ihre Ruhe haben". Also nicht nur Ruhe, sondern ihre. Das ist seltsam, denn damit wird ein besitzanzeigender Anspruch auf etwas ausgedrückt, das man eigentlich schwer besitzen kann. Wer diesen Anspruch verstehen will, kann im Ruheabteil der Deutschen Bahn damit beginnen. Da liegen nämlich die Nerven blank.

Die Schnellzüge bieten seit einigen Jahren Bereiche an, in denen man nicht telefonieren und auch sonst möglichst keinen Laut geben soll. Für Reisende, die im Zug zu tun haben oder ein gutes Buch lesen wollen, erscheint das erst einmal sinnvoll. In Wirklichkeit herrscht aber in der Ruhezone oft eine ganz eigene Gereiztheit.

Diese entsteht durch Zeitgenossen, die ihre gesamte Wachsamkeit auf die Einhaltung des Schweigegebots richten. Sie rügen jede Übertretung pflichtbewusst und reaktionsschnell, sie springen auf und zischen los, als hätten sie nur darauf gewartet. Nicht bloß, dass sie damit ihre eigene Ruhe ruinieren, deretwegen sie da sitzen - nein, die ganze Atmosphäre droht davon kirre zu werden. Die Bahn geht jetzt daran, die Kennzeichnung der Ruhezonen für alle sichtbarer anzubringen, aber auch das wird diese Orte wohl kaum konfliktfreier machen. In Internetforen gibt es zum Beispiel längere Diskussionen darüber, ob auch das Klappern von Laptop-Tastaturen bereits zum unerwünschten Lärm gehört.

Im normalen Abteil hingegen, das auch Handybereich genannt wird, scheint es da fast schon entspannter zuzugehen - trotz des gelegentlichen Ärgers über "Ich sach mal"-Telefonate, schreiende Kinder oder Skatgruppen auf dem Weg zur Moselfahrt. Inmitten der gemischten Geräuschkulisse kann man gar nicht so schlecht arbeiten oder lesen, wie man meinen könnte. Warum ist das so? Nun, Schriftsteller haben einst in Wiener Kaffeehäusern ihre Bücher geschrieben oder die Weltliteratur durchgearbeitet. Wer sich aber in einer ganz stillen Bibliothek dringend konzentrieren will, dem kann es passieren, dass ihn ein einziges in der Ferne knarrendes Fenster mit der Zeit verrückt macht.

Es ist also eine Frage der Fokussierung und Ausblendung, aber auch der kulturellen Gewohnheiten. In ähnlicher Weise wird es manchem nicht leichtfallen, sich ein "Erwachsenenhotel" so richtig relaxed vorzustellen. Die Internetseite "Urlaub ohne Kinder" führt 36 solche Herbergen in Deutschland auf, das Angebot wächst. Gemeint sind mit "Erwachsenenhotels" ("Adults only") nicht etwa dubiose Stundenhotels, sondern Gasthäuser, die keine Minderjährigen dulden, wegen der Geräusche. Die Verkrampftheit solcher Erholung liegt, mal abgesehen von der moralischen Fragwürdigkeit, in dem aktiven, ausdrücklichen, kategorischen Ausschluss von menschlichen Störungen, ähnlich wie im Ruheabteil der Bahn.

Vor über 100 Jahren gab es den Anti-Lärm-Verein "Kampf des Geistigen gegen die Verpöbelung des Lebens"

Die Muße war einmal ein philosophisches und dann ein bürgerliches Gut. Jetzt ist sie, so scheint es, durch die Ruhezone ersetzt worden. Man sieht das auch an dem unglaublichen Boom der "Achtsamkeit", die sich in den USA von einer buddhistischen Sinnsuche zu einer kapitalistischen Entspannungstechnik entwickelt hat. Gestresste Manager können sie in Kursen während der Mittagspause üben.

Überhaupt gibt es eine ganze Entschleunigungs-, Eigentlichkeits-, Rückzugs- und Aussteiger-Industrie. Ein Buch mit dem Titel "Gelassenheit" stand im vergangenen Jahr achtzehn Wochen lang an der Spitze der Spiegel-Bestsellerliste. Die Kerkeling-Verfilmung "Ich bin dann mal weg" empfiehlt sich als Familienprogramm fürs Weihnachtskino. Die amerikanische Autorin Susan Cain hat ein Lob der Stille und der Introvertiertheit (Titel: "Quiet. The Power of Introverts in a World That Can't Stop Talking") mithilfe einer maximal extrovertierten Marketingmaschine zu einem solchen Verkaufserfolg gemacht, dass sie in diesem Jahr eine eigene Firma gründen konnte. Sie heißt "Quiet Revolution". Das fürs Frühjahr angekündigte neue Buch des Aussteiger-Literaten Björn Kern - "Das Beste, was wir tun können, ist nichts" - ist nur noch ein weiteres von vielen, vielen Abteilen in der Ruhezone.

Jeder sitzt für sich an seinem Ding

Das Bedürfnis, das da bedient wird, ist natürlich nicht nur verwerflich. Mobilität und Verstädterung sind schlicht eine akustische Belastung. Lautsprecher, Großraumbüros oder schlechte Isolierung auch. Man wünscht niemandem, in der Feinstaubhölle einer Durchgangsstraße zu leben. Und etwa fünf Millionen Arbeitnehmer in Deutschland sind, so warnt das Münchner Helmholtz-Zentrum, bei der Arbeit einem Lärm ausgesetzt, der ihr Gehör gefährden kann.

Das Problem ist nur, das der ganze Zivilisationsüberdruss immer schon zum modernen Leben der Neuzeit hinzugehört hat, sodass beide untrennbar verschwistert sind. Das gilt gerade für das Verhältnis von Ruhe und Geschäftigkeit. Der Philosoph Theodor Lessing gründete vor über hundert Jahren in Hannover einen Anti-Lärm-Verein, als "Kampf des Geistigen gegen die Verpöbelung des Lebens". Lessing stieß sich an der Ankunft der Autos, aber auch am Klang der christlichen Kirchtürme in den Städten, die er für nicht mehr zeitgemäß hielt. Ungefähr so, wie heute über den Ruf des Muezzins diskutiert wird, fand Lessing, es sei "störend, wenn sich Glockentöne, deren Bedeutung keiner fühlt und kennt, aus allen Richtungen der Windrose in Privatgefühle und Privatgedanken mengen".

Lärm lässt sich nicht nur in Dezibel messen. Sinnliche Empfindungen sind immer auch sozial bestimmt

Wie sich da antimoderne und großstädtische, moderne Gefühle bezeichnend verquicken, das erklärt auch eines der interessantesten Bücher dieses Jahres, "Die Unruhe der Welt" von Ralf Konersmann. Die Ideengeschichte kennt unendliche Lamenti über Entfremdung, Ablenkung, Zerstreuung. Sie gehören zur Nachwirkung einer Anfangserzählung: derjenigen vom Sündenfall und der Vertreibung aus dem Paradies in der Genesis ebenso wie der vom rastlosen Zivilisationsstifter Prometheus in der griechischen Mythologie. So wurde, schreibt Ralf Konersmann, "die Gleichursprünglichkeit von Unruhe und Kultur" tief verankert. In diesem Leben steht keine (Er-)Lösung zur Verfügung - nur Mäßigung, Ausgleich, Urlaub.

Und deshalb ist der Ärger über Lärm eben nicht nur in Dezibel zu messen. Sinnliche Empfindungen sind immer auch sozial bestimmt. So furchtbar laut und hektisch sind zum Beispiel die meisten mittel- und nordeuropäischen Städte gar nicht, verglichen mit den globalen Megacitys. Aber je weniger Dreck und Kinderlärm wir vor der Tür haben, desto empfindlicher werden wir offenbar. Manche kaufen sich schicke Innenstadtwohnungen für Villenpreise und wundern sich dann, dass es nicht so leise ist wie im gepflegten Vorort. Die glatten Oberflächen der Design-Interieurs verstärken zudem den Hall. Aber es gibt ja die Kopfhörer, die Außengeräusche abschirmen - ein privater Musikkosmos, der, wenn er in sich auch noch so laut ist, eine eigene kleine Ruhezone bildet.

Vertrackt ist die Stille der digitalen Geräte. Ein paar Klingeltöne oder eine Gruppe von Jugendlichen, die sich einen Hit über Handy-Lautsprecher vorspielen, sind gar nicht entscheidend. Denn insgesamt kommt die Hingabe an die Unruhe des Netzes, die in der ständigen Aktualisierung besteht, ja als eine solipsistische Ruhe daher. Jeder sitzt für sich an seinem Ding.

Auffällig ist, dass die Benutzeroberflächen, die Websites und Apps immer aufgeräumter, ruhiger, übersichtlicher, handhabbarer gestaltet werden. Das fühlt sich leise und behutsam an - und verschleiert, dass die in diesem Rahmen ablaufende Beweglichkeit, die sekündliche Auffrischung wohl nur noch so zu bewältigen ist.

Diese Unruhe ist eine stille Macht. Und sie verstärkt noch, so lässt sich vermuten, das allgemeine Gefühl zumindest der Mittelschichten, dass sie dem Regiment der Flexibilität mehr Planbarkeit abtrotzen müssen, weniger Überraschung und Störung. Die großen Ziele werden unkalkulierbarer, da möchte man im Kleinen nicht zu viel Spontaneität und Krach haben. Aber auch mit der automatischen Nachbestellung von Waschmittelpackungen kann man das Durcheinander der Welt nicht beseitigen, wie die Ankunft der Flüchtlinge in diesem Jahr gezeigt hat. Vereinsamung ist in dieser Gesellschaft, wie die Weihnachtswerbung spielerisch vorführt, ohnehin eine größere Sorge als zu viel Trubel.

Überhaupt: Weihnachten? Kommt jetzt nicht eine stille Zeit? Eigentlich nicht. In der alten, agrarischen Welt war die Adventszeit eine ruhige, dunkle Bußzeit, und Weihnachten kam buchstäblich mit Pauken und Trompeten. Während sich in der Krippe gewiss ein intimes, geheimnisvolles Geschehen abspielt, machen die himmlischen Heerscharen dazu und deswegen einen Riesenlärm. Selbst im Lied "Stille Nacht", das als Inbegriff bürgerlicher Weihnachtsbesinnlichkeit gilt, heißt es in der letzten Strophe: "Durch der Engel Halleluja / tönt es laut von fern und nah".

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