Besonderes Flair:Schlossherr auf Zeit

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Udo Hahn, Direktor der Evangelischen Akademie, residiert im Tutzinger Schloss. Und er weiß viel über die wechselvolle Geschichte des Herrschaftssitzes

Von Manuela Warkocz, Tutzing

Hier eine edle Villa, da ein repräsentatives Landhaus - am Ufer der Seegemeinde Tutzing reihen sie sich aneinander wie an einer Perlenkette. Dazwischen aber ein Solitär: das Schloss. Bis heute nimmt es samt seinem Park eine herausragende Stellung am Ort ein. Die Einheimischen sprechen respektvoll von "unserem Schloss". Gäste aus aller Welt verknüpfen damit die Evangelische Akademie Tutzing, ein angesehenes Zentrum der Erwachsenenbildung und gesellschaftlicher Impulsgeber. Was sich heute mitten im Ort hinter gelb-weißen Mauern verbirgt, gilt als die Keimzelle Tutzings. Im Lauf seiner wechselvollen Geschichte beherbergte es eine reihe interessanter Persönlichkeiten.

Bis ins achte Jahrhundert wird der Ursprung des Herrensitzes datiert. In Aufzeichnungen des Klosters Benediktbeuern ist die "villa Tuzzingen" als Schenkung an das Kloster erwähnt. Akademiedirektor Udo Hahn beschreibt in seiner kleinen Abhandlung "Schloss und Evangelische Akademie Tutzing", erschienen 2014, was man sich unter einer solchen "villa" vorzustellen hatte: Haupthöfe, deren Hintersassen Abgaben an ihren Herrn leisteten und in der Saat- und Erntezeit Frondienste auf den Haupthöfen verrichteten. Im 13. Jahrhundert fiel der Besitz an die Wittelsbacher. Sie vergaben das Vogteigut an Ministeriale. Erwähnt ist in den Annalen ein "Conradus Tutzinger".

Im 15. Jahrhundert zog es erstmals reiche Münchner Patrizier an den Starnberger See. Wilhelm Dichtl erwarb das Gut aus dem Besitz des Wittelsbacher Herzogs. Der Händler war mit Salz, Pelz und Tuch vermögend geworden. Die Dichtls blieben über fünf Generationen in Tutzing und übernahmen herausragende Ämter in der Region. Vier von ihnen wurden als Pfleger des Gerichts in Starnberg betraut. Wilhelm Dichtl hat vermutlich auch das ursprüngliche Schloss erbauen lassen. Kreisheimatpfleger Gerhard Schober datiert in seinem Standardwerk "Schlösser im Fünfseenland" den Bau zwischen 1480 und 1500. Dichtls Sohn Bernhard erhielt 1519 das Hofmarksrecht und damit Privilegien in einem weiten Umkreis. Bis Pähl, Oberzeismering und Traubing erstreckten sich die Besitzungen. Auf einem Holzschnitt um 1560 findet sich erstmals eine Abbildung des Schlosses. Man sieht in gewissem Abstand zum See einen quadratischen bis leicht rechteckigen Bau, der drei bis vier Geschosse hoch ist, abgeschlossen mit Treppengiebeln und einem Satteldach. Umgeben ist das Schloss zu jener Zeit von einer Mauer mit Ecktürmen. In den Wirren des Dreißigjährigen Krieges gingen das Schloss und mehrere Anwesen der Hofmark in Flammen auf. Dichtls mussten ihren Wohnsitz nach München verlegen.

Hans Albrecht von Haimhausen, Rentmeister des Oberlandes ersteigerte den Besitz. Er ließ das verwüstete Schloss wieder instand setzen. Bis heute lassen sich aber Reste der ursprünglichen Anlage aus dem 15. Jahrhundert nachweisen, wie man bei der grundlegenden Sanierung des Schlosses 1985/86 mit Erstaunen feststellte. So sind die Außenmauern im heutigen Schlossbau noch weitgehend enthalten. Als die Mauer der nördlichen Fassade freigelegt wurde, erkannte man darunter die Nordwestecke des ersten Baus. Barocke Putzschichten wurden entdeckt. "Hinter der Rahmung des heutigen Hauptportals fand sich sogar noch ein Teil des in Rotmarmor gearbeiteten spätgotischen Portals", schildert Schober den erstaunlichen Fund.

Nach wechselvoller Geschichte gelangte das Schloss in den Besitz der Reichsfreiherren und Grafen von Vieregg. Friedrich von Vieregg, streitbar um seine Privilegien kämpfend und bis zu seinem Tod mit 91 Jahren unverheiratet, ließ von 1803 bis 1816 das Schloss grundlegend neu gestalten. Erweiterungen ergaben einen Hufeisenbau, der sich um eine Art Ehrenhof gruppierte. Die Fassade bekam ein schlichtes klassizistisches Gesicht. Das reichlich verbaute und düstere Innere verwandelte sich in großzügige Räume mit Blick auf Garten oder See, wie es die Zeitgenossen liebten. Es entstanden neue Ökonomiegebäude, die nördlich einen Vorhof bildeten, etwa herrschaftliche Wagenremisen, Getreidestadel, Ochsenstall, Schreinerei und ein Gewölbe für Feuerrequisiten. Für Beamte wurden in einem Nebengebäude Amtszimmer, Wohnungen, Registraturen und ein Archiv geschaffen. Es gab eine Brauerei und ein Menageriegebäude samt Garten. Die Anwesen der Dorfbewohner lagen in einem Bogen um das Schloss herum. 1841 ließen Viereggs einen englischen Park anlegen, den Besucher in seinen Grundzügen bis heute genießen können. Im westlichen Parkteil lädt immer noch ein hübscher Pavillon samt Schatten spendenden Pergolen zum Verweilen ein, ebenso der Laubengang am Südende des Parks.

Weil Viereggs den Besitz nicht mehr unterhalten konnten, verkauften sie ihn 1869 an den wohlhabenden Verleger Eduard Hallberger aus Stuttgart. Der hatte mit populären Zeitschriften wie "Illustrierte Welt" und "Die Gartenlaube" ein Vermögen gemacht, gab Klassiker und Reisebücher heraus. Hallberger kaufte einen Uferstreifen aus dem Besitz der Gemeinde hinzu. Das erlaubte dem von ihm engagierten Münchner Oberhofgärtner Karl von Effner, den Park auf ganzer Länge bis ans Ufer auszudehnen. Effner situierte Baumgruppen und exotische Blumen und Büsche an herausragenden Stellen, ließ Figuren und Steinvasen aufstellen und westlich des Schlosses ein Palmenhaus bauen, in dem exotische Pflanzen gezogen wurden. Am Ufer bereichern bis heute eine große Terrasse und ein Bootshaus das Ensemble. Fotos aus den 1870er Jahren belegen das luxuriöse Ambiente. Auch am Schloss ließ der neue bürgerliche Besitzer Veränderungen vornehmen: Das steile Walmdach wurde durch ein flaches ersetzt, die Fassade erhielt ein repräsentatives Gesicht im Stil des Historismus. Die zahlreichen hochrangigen Künstler und Literaten, die Hallberger in Tutzing zu Festen und Aufenthalten empfing, konnten sich in Musikzimmer, Billardsalon, Spielzimmer, einer großen Bibliothek, Reithalle und auf einer überdachten Kegelbahn zerstreuen. In einer Voliere konnten die Gäste wie Franz von Lenbach oder die Fotografenbrüder Hanfstaengl Hunderte bunter Vögel bewundern.

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(Foto: Nila Thiel)

Der Blick, den Besucher der Evangelischen Akademie in Tutzing von der Terrasse aus auf See und Alpenkulisse genießen können, ist traumhaft.

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(Foto: Nila Thiel)

Herrschaftlich ist auch die Innenausstattung des Schlosses.

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(Foto: Nila Thiel)

Der markante Brunnen im Innenhof der Akademie zählt zu den beliebtesten Fotomotiven der Schlossgäste.

Bis heute nimmt das Schloss samt seinem Park eine herausragende Stellung am Ort ein.

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(Foto: Nila Thiel)

In den Salons des klassizistischen Hauptbaus kann man auf edlem Parkett zwischen Lüstern, Spiegeln und wunderschönen alten Kachelöfen wandeln.

Als ebensolcher gilt Gabriele Hallberger, die von ihrem Vater das Schloss erbte. Die nach einer Scheidung mit dem Orientalisten Carlo von Landberg verheiratete Gräfin dekorierte das Schloss mit orientalischen Reiseerinnerungen. Vor allem mit ihrer exotischen Dienerschaft, darunter zwei "Schlossmohren" erregte die extravagante Dame im Dorf Aufmerksamkeit.

Nicht minder exzentrisch trat einer der nächsten Besitzer auf, der jüdische Börsenspekulant und Kunsthändler Marczell von Nemes aus Ungarn. Er hatte mit Spürsinn eine der größten privaten Gemäldesammlungen seiner Zeit zusammengetragen, angeblich unter anderen mit Werken von Cranach, Dürer, Rubens und Tizian. Der schillernde Schlossherr ließ sich in einer prunkvollen ungarischen Uniform ablichten und mehrere Villen und Schlösser mit seinen Kunstwerken bestücken. In seiner Tutzinger Residenz ließ er im 2. Obergeschoss nicht nur ein zeitgemäßes Bad einbauen, sondern auch ein eigenes Atelier. Im Ostflügel konnte man in einem neuen zwölf Meter langen Speisesaal samt angrenzender Bibliothek dinieren. Im Tutzinger Schlosspark erinnern noch einige Kunstwerke und Sammlerstücke an ihn. Bleibenden Bestand hat der Musik- und Festsaal, den er aus dem ehemaligen Palmenhaus schaffen ließ. Ins Auge fällt dort die prunkvolle Kassettendecke, Kopie nach einem toskanischen Vorbild, sowie die aufwendigen, vergoldeten und weißen Fenstergitter und Tore. In Tutzing schätzte man ihn als großzügigen Mäzen. Er überließ der Gemeinde den Johannishügel, dem Turnverein seine Reithalle und stiftete den Hochaltar von St. Joseph, über dem noch heute sein Wappen prangt. Als er 1930 starb hinterließ Nemes allerdings einen enormen Schuldenberg von fünf Millionen Goldmark. Sein Besitz wurde versteigert.

Als letzter namhafte Privatbesitzer des Schlosses tritt die Familie von Backpulverunternehmer Oetker auf. Sie nutzte die Liegenschaft als Erholungsheim für Werksangehörige, bevor sie in den letzten Kriegswochen zum Lazarett für Wehrmacht und Waffen-SS wurde. Zudem, so schildert Udo Hahn, diente das Schloss als Depot für Diverses: Das Deutsche Museum hatte Bestände im Keller eingelagert, der Teppichhändler Bernheimer auf dem Speicher wertvolle Teppiche, Mathilde von Ludendorff ihr Mobiliar und ein Gastwirt seine Vorräte. Noch vor Kriegsende setzten jedoch Plünderer dem Schloss zu. 1945 beschlagnahmten es die Amerikaner, nahmen das Archiv an sich und verbrannten es. Rudolf August Oetker verkaufte das Schloss an die evangelische Kirche.

Sie machte daraus ein Heim für Russlandheimkehrer, bevor 1950 die Evangelische Akademie gegründet wurde und sich in Tutzing niederließ. Seit 65 Jahren ist das Schloss nun ein christlich geprägter Ort der Begegnung für Männer und Frauen aus Politik, Wirtschaft, Kultur, Kirche und Medien. Jährlich kommen rund 8000 Teilnehmer zu den mehr als 100 Tagungen, Workshops und abendlichen Foren. Veranstaltungen von Stiftungen, Universitäten und Firmen bringen weitere 6000 Menschen ins Haus, so Akademiedirektor Hahn. Meinungsbildend wirkten von hier aus viele große Namen der Nachkriegszeit. Gerade erst war im Zusammenhang mit dem Tod von Egon Bahr von der evangelischen Akademie Tutzing die Rede. Denn auf einer Tagung des Politischen Clubs hatte Bahr 1963 das Motto vom "Wandel durch Annäherung" lanciert.

Auch baugeschichtlich hat die Akademie ihre Handschrift hinterlassen. Sie nimmt sich nicht nur intensiv der aufwendigen Instandhaltung der Gebäude und Pflege des Parks an, sondern hat mit der Rotunde - einem runden Vortragssaal - des renommierten Architekten Olaf A. Gulbransson, einen bis heute bemerkenswerten Akzent gesetzt. Gut fügt sich auch der externe, wie eine Orangerie anmutende Speisesaal ins Ensemble ein, den Hans-Busso von Busse 1981 Richtung See errichtet hat. Der ehemalige Kavaliersbau im ersten Hof wurde zu einem Gästehaus mit modernen, zweckmäßigen Übernachtungsräumen ausgebaut. In den Salons im ersten Stock des klassizistischen Hauptbaus kann man aber immer noch auf edlem Parkett zwischen Lüstern, Spiegeln und wunderschönen alten Kachelöfen wandeln. In der Schlosskapelle im nordwestlichen Seitenflügel stößt man auf leuchtende Glasfenster, deren Szenen man aus berühmten deutschen und französischen Kathedralen kennt. Marczell von Nemes hat die Kopien 1921 von der Münchner Hofkunstanstalt F. X. Zettler anfertigen lassen. Auf weitere Relikte des ungarischen Sammlers stoßen Besucher in Außenbereich und Park. Zwischen Weinreben lugt an der Nordwand des Schlosses der Grabstein eines Ritters aus dem 16. Jahrhundert hervor. An der Südfront stößt man auf ein spätbarockes Marmorrelief einer Madonna mit Kind. Sobald man zum Ufer kommt, nimmt einen der fantastische Blick gefangen. Von einem Liegestuhl aus lässt sich die gesamte Alpenkulisse von Karwendel, Wettersteinmassiv und Zugspitze ausmachen. Ein wahrhaft königlicher Platz für ein Schloss.

© SZ vom 04.09.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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