Tutzing:Klare Verhältnisse

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Mit Klarheit und Hingabe: Anaïs Gaudemard bei ihrem Auftritt in Tutzing. (Foto: Thiel)

Die Harfenistin Anaïs Gaudemard im alten Schloss Tutzing

Von Reinhard Palmer, Tutzing

Als Charlotte Balzereit angekündigt war und erkrankte, sprang Isabelle Perrin ein. Nun war Perrin explizit von den Musikfreunden Tutzing eingeladen - und musste mit einem Handgelenkbruch selbst absagen. Und es kam Anaïs Gaudemard, die genauso wenig vorhatte, Ersatz zu sein wie damals Perrin. 1991 geboren, steht die mehrfach preisgekrönte französische Harfenistin erst am Anfang ihrer Laufbahn, vermag aber jetzt schon ihr Publikum vom ersten Ton an mitzureißen. Dass ihr Programm ausgesprochen französisch ausfiel, habe daran gelegen, dass die französische Tradition ein sehr reiches Repertoire für die Harfe hervorgebracht hat, ließ sie das Publikum wissen. Wie auch immer es zu erklären war: Gaudemard präsentierte im Konzertsaal der Evangelischen Akademie Tutzing ein Programm, das die Harfe innerhalb eines stimmigen Kontextes sehr vielseitig in Erscheinung treten ließ.

Grundsätzlich mit großer Hingabe und mit nachdrücklicher Ausdruckskraft am Werk, ließ sich Gaudemard dabei nicht zu Unbesonnenheit hinreißen. Ihr Spiel bestach vor allem mit einer klaren Disposition der einzelnen Stimmen und transparenter dynamischer Gestaltung. Deutlich wurde das in Debussys "Clair de Lune" aus der Suite Bergamasque, im Original für Klavier - das wohl populärste Stück des Impressionisten. Doch diffus oder nebulös, wie schon bald die fortschrittliche Groupe des six die Musik Debussys abtun sollte, war kein einziger Takt in der Interpretation von Gaudemard. Jedes Motiv erklang deutlich exponiert und war in eine entschieden geformte Atmosphäre getaucht. Das Gestaltungsspektrum zeigte sich weit gespannt zwischen filigranen, geradezu fragilen Tupfen und breit fließender Melodik. Ähnlich wie in Debussys "Valse Romantique", der durch Gaudemards Dramaturgie beachtliche Spannung gewann.

Der aus Paris angereisten, charmanten Musikerin war aber auch an großer Wirkung gelegen. Und sie sorgte mit dem Impromptu op. 86 von Fauré gleich zu Beginn dafür: Mit ausladenden Gesten ließ sie die Wogen mit wuchtigem Schwung aufsteigen und niedersinken bis zum effektvollen Finale mit Grandezza. Der Reichtum in Faurés Differenzierung sollte in seinem "Une châtelaine en sa tour" op. 110 ganz andere Bereiche erschließen: sinnierende Melancholie, die in zarter Vision ausklang.

Die gestalterisch reichsten Werke sind sicher Variationen. Vor dem Hintergrund des Virtuosentums im 19. Jahrhundert waren denn auch die zwei Kompositionen dieser Gattung reißerische, überschwänglich reich kolorierte Stücke. Nicholas-Charles Bochsa hatte sich dafür als Thema Mozarts "Voi che Sapete" aus "Hochzeit des Figaro" ausgesucht, Elias Parish Alvars griff tief in die Kiste des schönmelodischen Gesangs aus Bellinis "Norma". Dass die Harfe für erzählerische Ausdrucksmöglichkeiten prädestiniert ist, belegten Kompositionen neueren Datums. So die "Légende" nach dem Gedicht "Les Elfes" von Leconte de Lisle, in einen rhapsodischen Ablauf von Henriette Renié gesetzt. Es begann still, steigerte sich virtuos, fiel mysteriös zurück, rhythmisierte sich im Neuaufbau. Reicher kann man an der Harfe wohl kaum gestalten. Ähnliches galt für Philippe Hersant Collage "Bamyan", der Geschichte der durch Taliban zerstörten Buddhafiguren. Der verschleierte Schluss rief einen Überraschungseffekt hervor, nachdem zuvor intensive Verdichtung für große Spannung gesorgt hatte. Ovationen und eine Flamenco-Zugabe.

© SZ vom 19.04.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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