Solo-Performance:Sterbefein

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Zwischen Lachen und eigener Betroffenheit: Die großartige Solo-Performance von Gilla Cremer machte das Publikum dankbar und nachdenklich. (Foto: Arno Declair/oh)

Viel zu früh ereilt die Mutter der Tod, dann den Vater: Gilla Cremer räumt im Gautinger Bosco "Die Dinge meiner Eltern" auf

Von Blanche Mamer, Gauting

Was macht ein Leben aus? Was bleibt, wenn es vorbei ist? "Sterbefein" müsse das Haus jederzeit sein, lautet der ständig wiederkehrende Spruch in der Familie von Agnes. Man müsse alles so hinterlassen, als ob man nicht mehr wiederkäme, hat die Mutter vor jeder Reise gesagt. "Man weiß doch nie, was kommt." Und dann kommt alles ganz anders, die Mutter stirbt plötzlich, viel zu früh und unvorbereitet. Nach sechs Jahren ist auch der Vater tot - und Agnes, die dritte von vier Töchtern, soll ausräumen.

Agnes das ist Gilla Cremer, der es gelingt "Die Dinge meiner Eltern" (in der Regie von Dominik Günther) als Solo-Performance genau, tiefgründig, melancholisch und komisch zugleich im ausverkauften Gautinger Bosco auf die Bühne zu bringen. Allein steht sie im großen, bereits verkauften Haus am Fuß des Drachenfels, ratlos, unschlüssig, wo sie anfangen soll. Ihre erfolgreichen Schwestern reisen ab, sie sind in alle Winde verstreut, unglaublich beschäftigt, in leitenden Positionen in Dallas, Hanoi, den Philippinen. Als einzige ist Agnes in Deutschland geblieben, als freie Schauspielerin. Für Bärbel, die Älteste, ist klar: "Du hast doch wirklich alle Zeit der Welt!" Nun steht sie also vor einer hohen Wand aus Umzugskartons. Da sind so viele Dinge, die eine Rolle gespielt haben, die wichtig waren, die immer noch Bedeutung haben, Erinnerungen an die Kindheit: Die kleine Fünfjährige, von Gefühlen überwältigt, in der Kuschelritze im Bett der Eltern, in die sie sich immer hinein schummelte. Da ist der vertraute "Urmutterduft" des groß geblümten Morgenmantels, den sie so liebt, da ist Papas kleines gelbes Kopfkissen, das nach seinem Rasierwasser und dem Ballistol-Öl riecht, mit dem er sein Jagdgewehr reinigte, da ist Mamas Rollnähtisch ("Finger weg, Kinder") mit den zuunterst versteckten blauen Liebesbriefen von Hans. Hans?

"Was vom Leben übrig bleibt, kann alles weg", hatte ein Entrümpelungsprofi geraten. Eine Horrorvorstellung für Mama. 60 Jahre hat sie in dem Haus gelebt, hier wurden die Kinder groß, die Großeltern gepflegt, Familienfeste gefeiert, erste Partys. Die zwiespältigen Gefühle der Protagonistin übertragen sich auf die Zuschauer, von denen viele selbst in den 60er und 70er Jahren aufwuchsen. So lösen die Sprüche der Mutter Aha-Lachen aus: Zieh dich warm an - Salat kann man immer - Wollen wir doch das Beste hoffen - Erst kauen, dann schlucken - Ruf an, wenn du angekommen bist - Saubere Unterwäsche ist wichtig, du könntest einen Unfall haben. . . Gilla Cremer ist sehr nah dran am Zuschauer, er kann mitfühlen, was es heißt, all die Sachen zu sortieren, aufzulisten und mit gelben, weißen, blauen und roten Punkten zu markieren, für Lieblingssachen oder behalten, wegwerfen, verschenken, verkaufen. Exakt 17 598 Dinge hat Agnes registriert. Neben dem schönen großen Spiegel im Flur, dem Biedermeier-Wäscheschrank der Mutter mit ihrer noch unberührten Aussteuer, den mehr als 2000 Büchern, dem Schaukelstuhl des Großvaters mit der Nazi-Vergangenheit beispielsweise sind es so unnütz gewordene Artikel wie 163 Marmeladengläser, die ältesten von September 1962, 21 Tupperdosen ohne Deckel, 31 Deckel ohne Dosen, 121 gefaltete Plastiktüten, nach Größe sortiert.

All die Dinge erinnern Agnes an längst vergessene Geschichten. Wie ihre Frage, ob die Mama an Gott glaube und deren Antwort: "Nein, ich glaube nicht an den lieben Gott, aber ich vermisse ihn." Oder als die Mutter die Zehnjährige fragte, ob sie bei einer Scheidung lieber beim Papa oder bei der Mama bleiben würde. Ein Drama, das danach nie mehr zur Sprache kam.

Lachen und Seufzen liegen nah beieinander, es gibt Momente, in denen das Publikum ganz still ist, den Atem anhält, und andere voll eruptiver Lacher und spontanem Applaus. Man merkt die Nähe der großartigen Künstlerin zum Thema, das Nachdenken herausfordert. Nachdenken darüber, wie man selbst mit den Dingen der Eltern umgeht, ob man den eigenen Haushalt "sterbefein"hält oder ihn unaufgeräumt den Kindern überlässt. Viermal wird die Solokünstlerin auf die Bühne zurückgeklatscht. Sie bedankt sich mit der Feststellung: "Wissen Sie eigentlich, was für ein tolles Theater Sie haben?" Ja, das wissen sie.

© SZ vom 17.03.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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