Gauting:Perfektion mit Seele

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Auf höchstem Niveau: Yulianna Avdeeva bei ihrem Auftritt im Gautinger Kulturzentrum Bosco. (Foto: Franz Xaver Fuchs)

Die russische Pianistin Yulianna Avdeeva nimmt das Publikum bei ihrem Soloabend im Gautinger Bosco mit auf eine aufregende Berg- und Talfahrt der Emotionen

Von Reinhard Palmer, Gauting

Am Ende gab es Ovationen, und da überraschte es dann doch ein wenig, wie sehr diese Pianistin das Publikum emotional mitzureißen vermochte. Denn Yulianna Avdeeva ist nicht der Typ, der freizügig aus sich herausgeht und mit seinem Innersten wuchert. Die Verwunderung galt keinesfalls dem pianistischen Können, gab Avdeeva im Gautinger Bosco doch spieltechnisch eine grandiose Vorstellung anschlagstechnischer Vielfalt und Perfektion. Ihr Auftreten zeigte Sicherheit, und nicht im Geringsten ist an ihrer Hingabe und Bereitschaft zu zweifeln, gänzlich in die Musik einzutauchen.

Gerade die spieltechnische Meisterschaft machte es der Russin möglich, sich selbst bei der Feinarbeit gänzlich auf den Ausdruck zu konzentrieren. Avdeeva vermochte die virtuosesten Passagen ohne sichtbare Anstrengung zu meistern, quasi als Beobachterin des Geschehens, die Wichtigeres zu tun hatte, als sich mit dem Handwerk ihrer Hände zu beschäftigen. Das begeisterte, auch wenn diese Überlegenheit eine gewisse Distanziertheit zumindest suggerierte. In der h-Moll-Sonate Liszts beeindruckte die Spielweise aus der Fingerkraft heraus umso mehr, als gerade darin der Schlüssel zur Interpretation aus einem Guss lag - unter einem weiten Spannungsbogen zwischen zart sinnierender Lyrik und einem Gänsehaut-Grandioso in den orchestralen Höhepunkten.

Das war im Grunde auch das Thema des so umfangreichen wie anspruchsvollen Klavierabends: Das Hervorgehen, Sich-Entwickeln im Sinne einer Fantasie oder sinfonischen Dichtung, ganz gleich, mit welcher Gattungsbezeichnung als Vorwand. Tatsächlich hatte Beethoven seine beiden bevorzugten Gattungen, die Sonate und den Variationszyklus, teilweise so behandelt und ihnen damit weit über seine Zeit hinaus ein Eigenleben gegeben.

Avdeeva erkannte die Gratwanderung, Beethoven nicht als Romantiker erklingen zu lassen, doch gerade seine programmatische Sonate Es-Dur op. 81a "Les Adieux" auch entsprechend aussagekräftig zu gestalten. In dieses Dilemma bringt Beethoven die Interpreten auch in seiner Sonate e-Moll op. 90, sind doch die auf Schumann vorausweisenden deutschen Satzbezeichnungen als exakte Spielanweisungen der Romantik näher als der Wiener Klassik. Avdeevas Zurückhaltung in Dynamik und Agogik sowie Pedaleinsatz, nicht so in der anschlagstechnischen Differenzierung, brachte hier viel Energie hervor, aber auch eine spezifische Klangsubstanz, die Beethoven absolut gerecht wurde. Und das galt zweifelsohne auch für die 32 Variationen über ein eigenes Thema in c-Moll WoO 80, verleitet doch der improvisatorische Impetus der jeweils achttaktigen Improvisationen schnell mal zu unzeitgemäßer Freizügigkeit der Gestaltung. Avdeeva blieb bei der pianistisch perlenden Feinsinnigkeit im Anschlag, nutzte ihre technische Stärke, sie weiten Zusammenhängen unterzuordnen - und das Publikum auf eine aufwühlende Berg- und Talfahrt der Emotionen mitzunehmen.

Eine Herausforderung der besonderen Art stellen Liszts späte Werke dar, die einerseits mit dem Tod konfrontiert, andererseits stilistisch zukunftsgerichtet sind. "La lugubre gondola" ist der Faszination Liszts für die Beerdigungsgondeln entsprungen, denen er bei seinem letzten Treffen mit seinem Schwiegersohn Richard Wagner in Venedig mit Vorliebe nachblickte. Als Vorahnung eines Todes, der kurz darauf Wagner ereilen sollte, wie Liszt später mutmaßte.

Düster auch das Epitaph für Wagner als "R.W. Venezia" mit wagnerschen Fanfaren im Zentrum als Höhepunkt einer monumentalen Gestalt. Kurz vor seinem eigenen Tod dann das Werk "Unstern!" in rätselhafte Trostlosigkeit, wohl während seines letzten Besuchs bei Tochter Cosima in Bayreuth komponiert. Werke, die reiner Ausdruck sind, die Ausdruck nicht aus tonalen Formeln und Gesten schöpfen, sondern bei aller vordergründiger Kargheit aus einer inneren Kraft, die Yulianna Avdeeva aus sich heraus mächtig eindrucksvoll wirken ließ.

Und selbst nach den zwei ausgedehnten Chopin-Zugaben - Nocturne cis-Moll op. posth und Polonaise As-Dur op. 53 - konnte von Erschöpfung noch lange nicht die Rede sein.

© SZ vom 28.03.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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