Berg:Der Enge entflohen

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Jürgen Tonkel und Oskar Maria Graf haben sich natürlich nie getroffen. Und doch zeigen sich bei einer Lesung in ihrer Heimatgemeinde viele Gemeinsamkeiten

Von Sabine Bader, Berg

Das interessierte viele Kulturfreunde: Jürgen Tonkel und Schorsch Hampel präsentierten eine musikalische Lesung im Berger Marstall. (Foto: Georgine Treybal)

Können der Schauspieler Jürgen Tonkel und der Schriftsteller Oskar Maria Graf überhaupt etwas gemeinsam haben? Schließlich wurde Graf bereits 1894 geboren, ging ins Exil nach New York, musste den Zweiten Weltkrieg miterleben und starb 1967 fern der bayrischen Heimat. Tonkel hingegen ist Jahrgang 1962, er darf im Frieden aufwachsen. Und doch haben die zwei trotz der eigentlich recht unterschiedlichen Biografien eine Menge Gemeinsamkeiten. Denn beide sind Hiesige, auch noch aus derselben Gemeinde - Graf kommt aus Berg, Tonkel aus Höhenrain. Ein Dorf, das der Literat nie beim Namen genannt hat, sondern nur als "triste Moorgegend" mit niedrigen Torfstecherhäusern bezeichnet. "Mein Opa war ein Torfstecher", erzählt Tonkel und: "Graf hat Höhenrain nicht gemocht".

Und dennoch sind Graf wie Tonkel auf liebenswerte Weise stolz auf das bäuerliche Umfeld, aus dem sie stammen. Beide haben in ihrer Jugend gespürt, wie es ist, auf dem Land groß zu werden. In wohlvertrauter Enge. Aber eben auch erkannt, dass sie dieser Enge entrinnen müssen. Es ist ein Drang in ihnen, wenn auch unterschiedlich begründet. Tonkel, nach eigener Aussage in einem liebevollen, verständigen Elternhaus aufgewachsen, will einfach mehr erfahren, sehen und erleben. Er muss raus, frei sein, suchen. Der Auslöser, dass Graf sich ins ihm unbekannte München aufmacht, ist ein gänzlich anderer: eine Art Notwehr. Denn sein Bruder, der Bäcker Maxl, schlägt ihn ständig windelweich - diverse Male sogar halb tot. Nach einem besonders heftigen Zusammenstoß mit dem Bruder flieht Graf Hals über Kopf.

Tonkel arbeitet am Freitagabend in der musikalischen Lesung "Erinnerungen an Berg" im Berger Marstall anhand des wohl bekanntesten Graf-Romans "Das Leben meiner Mutter" genau diese Parallelen zwischen ihm und dem Autor heraus. Auch wenn er mehrfach betont, dass er sich mit Oskar Maria Graf natürlich nicht vergleichen will. Dazu präsentiert Schorsch Hampel, der urbayerische Bluesbarde, Lieder mit Titeln und Texten wie "Seinerzeit in der Münchner Stadt".

Es wird ein rundum runder Abend im Markstall, quasi im "Epizentrum des Geschehens", wie Tonkel es nennt. Und er hat völlig recht, wenn er Graf als "liebevollen Chronisten" seiner Heimat beschreibt und kundigen Beobachter der damaligen Verhältnisse. Ein schönes Beispiel dafür ist, wie Graf im Buch die ablehnende Reaktion seiner Mutter schildert, als der Vater im Bäckerhaus das "Elektrische" installieren lässt. Die Kinder der Heitrath Resl aber freuen sich über die strahlenden Glühbirnen dermaßen, dass sie das Licht in einer Tour ein- und ausknipsen. Tonkel erinnert diese Beschreibung an 1977, als in seinem Elternhaus das erste Telefon angeschafft wird. "Ein Quantensprung", von dem der Bub so ausgiebig Gebrauch macht, dass seine Mutter ein Schloss an der Wählscheibe anbringt. Graf taucht in die Münchner Boheme ein - Tonkel färbt sich die Haare grün, spielt Schlagzeug in der Punkband A&P und geht ebenfalls nach München. Noch eine Gemeinsamkeit der Beiden.

© SZ vom 18.10.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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