Volleyballer in Baku:Demokratieferner Frühsommer

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Herrschings Erstliga-Libero Ferdinand Tille lernt die Europaspiele in Baku kennen - und staunt

Von Sebastian Winter, Herrsching/Baku

Ferdinand Tille ist gern auf Reisen, auch wenn der 26-jährige Volleyball-Profi von Berufs wegen ständig auf gepackten Koffern sitzt. Der Nationalmannschaftslibero, der noch bis 30. Juni beim polnischen Spitzenklub Skra Belchatow unter Vertrag steht und kommende Saison beim Erstligisten TSV Herrsching spielt, mag es, andere Länder und neue Kulturen kennenzulernen, sein Job führte ihn schon zu Vereinen in Frankreich und Polen, außerdem nahm er an Welt- und Europameisterschaften in der Türkei, Italien, in Dänemark und Polen teil. Er findet es auch gut, ab und an hinter die Kulissen zu schauen. Dienstagnacht hat sich Tille allerdings in ein Land aufgemacht, dessen Fassade glänzt, das aber nicht gerade Spitzenplätze hinsichtlich der Menschenrechte, Pressefreiheit und des Demokratisierungsprozesses belegt: Aserbaidschan.

In der Hauptstadt Baku messen sich von Samstag an 6000 Athleten bei den erstmals ausgetragenen Europaspielen, einem Wettbewerb, der den Olympischen Spielen ähneln soll, aber an dem früh viel Kritik laut wurde: Weil er den so schon vollen Terminplan in vielen Sportarten sprengt. Weil es nur in drei der zwanzig Sparten um die direkte Olympia-Qualifikation geht (Triathlon, Tischtennis, Schießen) und viele Nationen daher zweitklassige Delegationen entsandt haben. Und weil eben Aserbaidschan der Ausrichter ist, ein quasi-diktatorischer Staat, der Oppositionelle mit allen Mitteln bekämpft. Sicher macht sich Tille Gedanken darüber, er sagt dann etwas, was der Realität im Athletendorf und an den Sportstätten wohl ziemlich nahe kommt: "Hier sieht alles tipptopp aus, aber man sieht natürlich nur die Oberfläche. Wir bekommen hier nicht so viel mit. Das ist gut, um sich auf den Sport zu konzentrieren, aber auch schade, weil wir nichts berichten können."

Tille war noch nie bei den Olympischen Spielen, seine Volleyball-Kollegen erzählen ihm, dass die Atmosphäre in Baku ganz ähnlich sei. Der Mühldorfer saugt dieses Sportlertreffen in sich auf, und den Wind, der die Hitze an der Westküste des Kaspischen Meeres am Freitag ein wenig erträglicher werden ließ. Er sieht einerseits die freundlichen Helfer und genießt das Essen in den Zelten, die aserbaidschanischen Kebap-Spieße findet er extrem lecker. Tille registriert andererseits aber auch die Metalldetektoren vor dem Dorf oder die ständigen Kontrollen am Bus oder am Eingang der Sportstätten. "Ziemlich viele Sicherheitsvorkehrungen", seien ihm aufgefallen, ,"von der Stadt haben wir jedenfalls noch nichts gesehen." An der Eröffnungsfeier wollte Tille am Freitagabend aber unbedingt teilnehmen.

Die Volleyballer kämpfen immerhin um wichtige Ranglistenpunkte für die Olympia-Qualifikation, Tille dürfte als einziger nominierter Libero in Vital Heynens Kader große Spielanteile haben. Die Deutschen haben eine schwierige Gruppe, am Samstag spielen sie gegen Russland, weitere Gegner sind die Slowakei, Bulgarien, Italien und Belgien. Aber auch hier lohnt sich ein Blick hinter die Kulissen. Denn Russland und viele weitere Teams treten nicht in Bestbesetzung an; auch Heynen lässt Topstar Georg Grozer und zwei weitere Spieler pausieren. Die Deutschen haben nach WM-Bronze aus dem vergangenen Herbst genug Selbstbewusstsein, um auch bei den Europaspielen zu überzeugen.

Ferdinand Tille ist übrigens kürzlich durch Kuba gereist, ein Rucksack-Trip mit seiner Freundin. Er lernt gerade wirklich ganz andere Kulturen kennen.

© SZ vom 13.06.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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