Porträt:Die ganz normalen Qualen

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Nach einem Jahr Pause und zwei Hüft-Operationen probiert sich der Hürdenläufer Tobias Giehl zurück an die nationale Spitze zu arbeiten - ein schmerzhafter Weg.

Von Andreas Liebmann, München

Er hat nicht ans Aufhören gedacht. Nicht im Juli vor knapp zwei Jahren, nachdem er kurz als Nachrücker im offiziellen deutschen Olympiakader für die Spiele in Rio aufgetaucht war, nach einer tagelangen Hängepartie dann aber doch nicht mitreisen durfte; die Norm hatte er um acht Hundertstelsekunden verpasst. Nicht im vergangenen März und Juli, als er zwei schwere Operationen durchstehen musste. Nicht in den Wochen und Monaten danach, als er probierte, zurückzufinden in seinen Leistungssport, in kleinen, manchmal frustrierend kleinen Schritten. Und schon gar nicht an diesem Samstag im Dantestadion. Da hat Tobias Giehl nur einen Gedanken: den ans Weitermachen.

"Die Gedanken ans Aufhören sind ein ständiger Begleiter", doch Giehl will zur EM nach Berlin

Selbstverständlich gibt er auch nicht auf der Zielgeraden seines 400-Meter-Hürdenlaufs auf, obwohl es dort aussieht, als könnte jeder Schritt der letzte sein. Das Gesicht drückt Qualen aus, die Bewegungen werden steif, aber natürlich erreicht er die Ziellinie beim Ludwig-Jall-Sportfest. Nach 51,97 Sekunden, Rang zwei hinter dem Österreicher Dominik Hufnagl. Mit einer 51er-Zeit, hat Giehl vorher gesagt, wäre er zufrieden. Falls es eine hohe 51 wäre, müsse er hinterfragen, wo er künftig ansetzen müsse. Und nun? Sagt er lange nichts. Keucht. Schnauft. Probiert mit schmerzverzerrter Miene, sein Kreuz zu entlasten.

26 Jahre ist der Hürdenläufer von der LG Stadtwerke alt. Er studiert Umweltingenieurswesen, bis zum Winter hofft er fertig zu sein. Giehl kommt in ein Alter, in dem man sich Gedanken machen muss, wie lange man den riesigen Aufwand noch treiben sollte für eine Sportart, in der die Allerwenigsten Geld verdienen. Und so ganz stimmt es auch nicht, dass er gar nicht über das Ende seiner Karriere nachgedacht hätte. "Natürlich macht man sich grundsätzliche Gedanken", hatte er vor dem Pfingstmeeting erzählt. "Die Gedanken ans Aufhören sind ein ständiger Begleiter, gerade an schlechten Tagen. Auch wenn ich daran zurückdenke, wie kraftraubend das letzte Jahr war. Man sammelt dann ehrliche Meinungen in seinem Umfeld ein, wie viel Sinn das alles noch hat." Und dann, sagt Tobias Giehl, schaue man eben von Jahr zu Jahr. Sogar von Halbjahr zu Halbjahr. "Da muss ich dann überprüfen, wie gut ich war. Wie schmerzfrei ich war."

Zwischen Ernüchterung und Zuversicht: Tobias Giehl im Zielraum. (Foto: Claus Schunk)

Tobias Giehl befindet sich keineswegs in einer Art sportlicher Midlife-Crisis. Gedanken wie diese haben den ehemaligen U20-Europameister immer begleitet. 2015 hatte er eine Saison vorzeitig beenden müssen, wegen andauernder muskulärer Probleme, Schmerzen an der Wirbelsäule. Trotz seines starken Comebacks 2016, als er Zweiter bei den deutschen Meisterschaften wurde und sich für die EM in Amsterdam qualifizierte, war er danach nicht wieder in die Förderung durch die Deutsche Sporthilfe aufgenommen worden. Und dann war auch die Saison 2017, die ihn zur WM in London führen sollte, beendet, ehe er sie richtig hätte anfangen können. Wegen Rückenschmerzen hatte er sich zu Jahresbeginn untersuchen lassen, dabei wurde eine knöcherne Verformung im Hüftbereich gefunden, die den gesamten Bewegungsablauf stört. "Der Schaden war wirklich groß", erzählt er, "der Knorpel war geschädigt, der Bandapparat", zwei schwere Operationen waren nötig. "Die Diagnose hat mich schon erschreckt", gibt er zu, doch alles sei noch in einem reparablen Rahmen gewesen. Und Giehl ist völlig klar, dass er an diesem Punkt davon profitiert hat, Teil des Leistungssportsystems zu sein. Nie hätte er sonst eine so intensive medizinische Betreuung erfahren, nie diese Grundfitness gehabt, die ihm bei der Genesung half. Und irgendwann wären die Operationen sowieso unumgänglich gewesen, um im Alter nicht dauerhafte Schmerzen zu haben. "Ich will ja auf jeden Fall weiter Sport machen, selbst wenn ich mit der Leichtathletik mal aufhöre", betont er.

Im vergangenen Herbst begann Giehl an seiner Rückkehr zu arbeiten. Joggen, Fitnessübungen. Im Januar das erste Trainingslager in Südafrika, erstmals mit Spikes über Hürden. Vier Wochen Pause wegen eines Harnwegsinfekts, dann das nächste Trainingslager, wieder Südafrika. "Die Fortschritte wurden kleiner", erkannte er, "in den ersten Monaten ging alles rasant." Nun bekam er Knieprobleme, doch die Zeiten näherten sich Wettkampfniveau an. Vor einer Woche kehrte er aus Teneriffa zurück, vom dritten Trainingslager. Sein Körper brauche länger zur Erholung nach Wettkämpfen, hat er festgestellt, länger auch für die Vorbereitung, mehr Physiotherapie als früher. Doch es lief gut auf Teneriffa. "Der Entwicklungsschritt war enorm." Er setze sich nun kleine Ziele, sagte er vor seinem Start in München.

Vornweg: Tobias Giehl (2. von rechts) im Lauf über 400-Meter-Hürden. (Foto: Claus Schunk)

Schritt für Schritt also? Keinerlei Gedanken an internationale Ziele? "Doch, doch", widerspricht Tobias Giehl, das schon. Die EM im August in Berlin steht ja an, natürlich wolle er dabei sein. Vor seiner Beinahe-Qualifikation für Rio war er ja auch aus einem Verletzungsjahr gekommen, argumentiert er. Nun sehe er die Ausgangslage ähnlich wie damals - ähnlich entspannt: "Wenn ich die Saison mit einer 51er-Zeit abschließe, wird niemand etwas sagen, denn ich habe ja diese OPs hinter mir. Aber ich selbst wäre schon sehr enttäuscht."

Als er in München wieder Luft kriegt, tut er sich schwer mit der Einordnung. "Einen Schwung Ernüchterung" stellt er fest, die Energie sei schon vor der Zielgeraden verbraucht gewesen. "Ich war fast verwundert, dass ich die letzten beiden Hürden unbeschadet überstanden habe." Andererseits: Rhythmisch habe er ein gutes Gefühl gehabt, es sei nur der Trainingsrückstand, den er nun spüre. Und seine Muskulatur. "Ich habe keine Schmerzen an der Hüfte, es ist normaler Belastungsschmerz", analysiert er erleichtert. "Ich kann schon mit ein bisschen Sicherheit hier rausgehen."

Dass seine Bestzeit von 49,48 Sekunden damals um diese Winzigkeit nicht reichte für Olympia, hing ihm lange nach. Doch Tobias Giehl hat damit seinen Frieden gefunden. "Klar denke ich heute noch ab und zu daran zurück", sagt er, "aber es geht mir nicht mehr so nahe. Ich sehe es als Erfahrung. Und ich bin stolz darauf, wie ich mit der Situation umgegangen bin." Er nahm damals noch an jenem Wettkampf teil, mit dem die Olympiastarter gen Rio verabschiedet wurden. "Ich wusste, dass ich nicht dabei bin, vom Kopf her war ich ganz unten, weil mein Traum geplatzt war." Dennoch gelang ihm in 49,70 Sekunden eine der schnellsten Zeiten seiner Laufbahn. Sich hängenlassen ist nicht Giehls Sache. Er weiß vielmehr, wie man nach Rückschlägen weitermacht.

© SZ vom 22.05.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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