Volleyball-Nationalspieler:"Die sind verrückt hier!"

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Die Volleyball-Nationalspieler Ferdinand Tille und Patrick Steuerwald über ihren Wechsel nach Herrsching, ihren Olympia-Traum, und zu welchen Schandtaten sie bereit wären für den "Geilsten Club der Welt"

Interview von Sebastian Winter

Ein Café am Münchner Goetheplatz, es gibt Kuchen, Bananenmuffins, typische Sportlerkost also. Der Libero Ferdinand Tille kommt ein bisschen früh, Kapitän und Zuspieler Patrick Steuerwald ein bisschen spät, Termine. Die ehemaligen Hachinger bestellen: Kuchen und Bananenmuffins - und erzählen über ihren Wechsel zum Volleyballklub TSV Herrsching, der am Samstag (18 Uhr, Nikolaushalle) gegen Lüneburg in seine zweite Bundesliga-Saison startet.

SZ: Herr Tille, wie ist Ihre Stimmungslage kurz nach dem Aus der deutschen Volleyballer im EM-Viertelfinale - Sie waren als Libero ja unmittelbar dabei?

Ferdinand Tille: Schon besser, aber noch nicht gut. Es ist einfach schade, dass wir so sehr unter unseren Möglichkeiten geblieben sind, schon das erste Spiel war eine Katastrophe. Wir wollten alles perfekt machen, das ist nach hinten losgegangen. Gegen Bulgarien im Viertelfinale hatten wir dann keine Chance, obwohl sie zwischendurch dumme Fehler gemacht haben. Aber wir haben es immer wieder geschafft, noch dümmere Fehler zu machen.

Patrick Steuerwald: Das Spiel kann man schon gewinnen.

Herr Steuerwald, Sie standen nach drei Jahren Pause im erweiterten Kader der Nationalmannschaft, hätte sich ein Zuspieler verletzt, wären Sie wohl nachgerückt. Haben Sie sich das Viertelfinale gegen Bulgarien angeschaut?

Steuerwald: Wir mussten mit Herrsching trainieren. Mir wurde aber von allen gesagt hinterher, schau es dir lieber nicht an, sonst regst du dich nur auf. Letzten Endes ist es schade, das Potenzial wäre da gewesen, ins Finale zu kommen, auch die Vorbereitung war super. Es ist aber auch brutal schwer, das bei einer EM zu erreichen, weil die Dichte so groß ist in Europa.

Apropos: Bei der Olympia-Qualifikation im Januar trifft die deutsche Auswahl in Berlin auf Weltmeister Polen, mögliche Gegner im weiteren Turnierverlauf sind Olympiasieger Russland und Europameister Frankreich. Nur der Turniersieger fährt zu den Spielen. Müssen Sie sich langsam von Ihrem Traum verabschieden?

Steuerwald: Es ist schade, dass das olympische Turnier nicht mehr das sportlich wertvollste Turnier sein wird. Es ist ja schon pervers, wenn man sich die Qualifikation anschaut, mit uns, dem Olympiasieger, dem Weltmeister, dem Europameister, die starken Bulgaren und Serben sind auch noch dabei. Und nur einer kommt weiter, das ist Wahnsinn. Zum Glück sind wir gesetzt.

Der Introvertierte: Ferdinand Tille - Markenzeichen: gelbes Haarband - fühlte sich bei Champions-League-Finalist Belchatow nicht mehr wohl. (Foto: Eibner/Imago)

Tille: Es ist nach wie vor unser Traum, der nun sehr weit weg ist. Ich möchte unbedingt zu Olympia, auch deswegen mache ich das Ganze noch. Wir waren beide noch nie bei den Spielen, 2012 sind wir kurz vor London leider rausnominiert worden.

Warum gehen zwei langjährige Nationalspieler im vorolympischen Jahr dann überhaupt nach Herrsching, zu einem Klub, der einen der kleinsten Etats der Liga hat und in einer Schulturnhalle spielt?

Tille: Ich habe mich letzte Saison bei meinem polnischen Klub (Champions-League-Finalist Belchatow) nicht so wohlgefühlt, menschlich, war viel alleine. Das wollte ich nicht mehr. Dann stand es zur Debatte, nach Deutschland zurückzukehren und nebenbei noch mehr zu studieren. Und es waren auch Angebote da: Frankfurt, Friedrichshafen, zum Schluss auch noch Berlin.

... die deutschen Topadressen.

Tille: Ja, aber es hat alles nicht perfekt gepasst. Geld hat sowieso nicht den Ausschlag gegeben, das war bei mir nie der Grund, sonst hätte ich längst aufhören müssen mit Volleyball. Die Herrschinger hatte ich anfangs gar nicht auf dem Schirm. Da passt alles, ich kann ab Januar ein Praktikum machen, meine Freundin wohnt in München, meine Familie in Mühldorf. Ich habe ein gutes Gefühl dabei.

Herr Steuerwald, auch Sie verlagern Ihren Lebensmittelpunkt nach Jahren im Ausland wieder nach München, wohnen mit Ihrer Freundin zusammen, erwarten in ein paar Wochen Ihr erstes Kind.

Steuerwald: Die Prioritäten verschieben sich, ja, Ferdl und ich machen dasselbe Fernstudium (Internationales Management) und wollen da vorankommen. Wir haben beide viel erlebt, ich war zuletzt in Frankreich (beim Erstligisten St. Nazaire), meine Freunde, Freundin, Family hier in München. Man sitzt dann dort, weit weg, hat seinen Computer, Internet - und Volleyball. Es gibt nur dieses Thema, nix anderes, auch wenn es mal nicht so gut läuft.

Tille: Du lebst, um zu trainieren. Früher war das egal, da hat man gesagt, wenn ich den einen Uni-Schein nicht hinbekomme, dann mache ich diese Saison halt gar keinen. Aber irgendwann denkt man, das kann doch nicht alles sein. Zum Glück konnte ich in Polen noch Fernkurse für die Uni machen, ansonsten habe ich gelesen und Netflix (Video-on-demand-Plattform) gefühlt komplett durchgeschaut. Ich habe nur darauf gewartet, dass ich endlich aus meiner Wohnung rauskomme.

Der Extrovertierte: Patrick Steuerwald, Spitzname "Nano", gleicht geringe Körpergröße durch seine emotionale Energie aus. (Foto: Imago)

Steuerwald: Und wenn man dann noch ein Scheißtraining macht, in den zwei Stunden am Tag, auf die man hinlebt, dann ist man doppelt frustriert.

Aber doch nicht mehr, wenn man dann auf sein Bankkonto schaut, oder?

Steuerwald: Klar bekommt man woanders mehr Geld als in Herrsching, gerade, wenn man ins Ausland geht...

... sechsstellige Beträge?

Steuerwald: Wir beide sicher nicht. Aber was man auch nicht vergessen darf: In anderen Ländern wird zwar viel versprochen, aber ob man das dann auch alles bekommt, ist die Frage. Ich hatte diese Erfahrung ja auch schon in Polen. Wir haben uns außergerichtlich geeinigt, aber ich habe nicht alles bekommen, was mir zustand. In Deutschland weiß man, dass das Geld zuverlässig überwiesen wird, auch wenn es nicht so viel ist. Das wägt man für sich ab.

Und Herrsching hat Sie überzeugt.

Steuerwald: Das soziale Umfeld, das weiß ich inzwischen, ist sauwichtig, um seine Leistung bringen zu können. Wir fühlen uns hier wohl, kennen viele der Spieler. Unser Traum von Olympia ist nach wie vor präsent. Ausruhen gibt's hier also nicht.

Tille: Auf den ersten Blick sieht das nach einem riesigen Rückschritt aus, aber ich sehe das auch überhaupt nicht so. Der Bundestrainer hat auch signalisiert, dass er den Wechsel gutheißt. Wir sind nicht hergekommen, um Urlaub zu machen. Und von dem Geld kann man leben, für Herrsching ist es sehr viel und schon eine gewisse Wertschätzung, die ich da bekomme.

Der Etat ist nach Klubangaben um knapp 40 Prozent auf 420 000 Euro gestiegen. Neben Ihnen hat Herrsching den slowakischen Nationalspieler Peter Ondrovic sowie die beiden deutschen Talente Phillip Trenkler und André Meier verpflichtet. Was haben Sie vor in der Liga und jetzt am Samstag zum Auftakt gegen Lüneburg?

Steuerwald: Lüneburg wird schwer. Sie sind sehr eingespielt. Und wir hatten eine katastrophale Vorbereitung, mit vielen verletzten, kranken, abgestellten Spielern. Aber die Saison ist lang, das Ziel sind die Playoffs, auch wenn es schwer wird, weil die Erwartungshaltung höher ist als letztes Jahr. Aber alleine dass der Ferdl und ich da sind, als gegensätzliche Pole, ist ein guter Mix. Wir haben viel Erfahrung auf dem Buckel, diese Spieler gab es letztes Jahr nicht. Und wir brauchen keinen, der uns führt.

Inwiefern gegensätzliche Pole?

Steuerwald: Ferdl war ja in den vier Jahren, in denen wir gemeinsam in Haching gespielt haben (2006 bis 2010), immer mein Zimmergenosse. Ich habe geredet, er hat geschlafen (lacht). Ich bin vielleicht der emotionalere Spieler . . .

Tille: Er hat sich in Haching auch von den Zwei-Meter-Leuten nie einschüchtern lassen und immer Vollgas gegeben, die Mannschaft als Zuspieler geführt. Erst recht gegen die Großen. Ich versuche seit Jahren, mehr aus mir herauszugehen und lauter zu werden. Ein nicht so einfacher Prozess.

Steuerwald: Aber Ferdl hat den inneren Antrieb genauso wie ich. Bei unserer nicht optimalen Körpergröße muss ja etwas da sein, was andere nicht haben.

Sie sind 1,80 Meter klein, Ferdinand Tille ist immerhin fünf Zentimeter länger. Für Volleyballer ist das fast winzig. Was bedeutet Größe in diesem Sport?

Steuerwald: Man hat Nachteile, besonders im Block, was die Reichhöhe angeht, was das Timing angeht. Dieser Faktor ist da, den kann man nicht wegdiskutieren. Und den muss man wettmachen, durch starke Aufschläge, durch eine bessere Abwehr, durch mehr Spielwitz.

Dazu passt Ihr Spitzname: Nano.

Steuerwald: Ja, dessen Entstehung ist schon eine Weile her, aus Friedrichshafener Zeiten noch, als ich dort in der zweiten Mannschaft gespielt habe. In unserem Kader stand auch ein Italiener, Daniele Pontarollo. Er war damals schon 30, ich gerade 16. Für ihn war ich dann eben nano, Zwerg auf Italienisch. Und er war nonno, der Opa.

Herr Tille, Ihr Markenzeichen ist das gelbe Stirnband, das Sie seit Jahren tragen. Auch in Herrsching? Und haben Sie Dutzende davon im Schrank hängen?

Tille: Auf jeden Fall kommt es zum Einsatz - und es ist immer dasselbe. Das war ursprünglich ein Schnürsenkel. Eines Sommers war ich wieder bei der Nationalmannschaft und länger nicht beim Friseur gewesen. Weil ich nichts anderes hatte und mich meine Haare total genervt haben, habe ich mir irgendwann diesen Schnürsenkel um den Kopf gebunden.

Sie spielen für einen Verein, der sich "Geilster Club der Welt" nennt, tragen Wiesn-Heimtrikots, Ihre Kollegen mussten zu Werbezwecken in den eiskalten Ammersee springen und zu Auswärtsspielen trampen. Sind die "verrückt" beim TSV?

Tille und Steuerwald: Ja!

Steuerwald: Da ist alles anders, die sind tatsächlich positiv verrückt, haben Ecken und Kanten, an denen sich auch viele Leute stören, ja stören sollen. Das neue Trikot zum Beispiel: Die einen lieben es, die andern hassen es. So eine Medienkampagne wie die gab es bisher in Volleyball-Deutschland jedenfalls noch nicht. Aus dieser Verrücktheit kommen gute Ideen, manchmal auch schlechte, aber es kommen wenigstens Ideen. Man versucht, anders zu sein als der Mainstream. Es ist auch relativ viel anders als in Haching früher.

Was denn?

Steuerwald: Dort war alles sehr strukturiert. Wir hingen teilweise zu stark in diesen Strukturen fest, wie Maschinen, die an- und ausgemacht werden. Aber der Erfolg war ja da. Jetzt ist vieles nicht so klar. Ein Beispiel: Gerade habe ich vom Trainer Bescheid bekommen, dass ich nach der Physiotherapie doch gleich zu einem Interview soll, anders als geplant. Für mich ist das neu. Beides hat Vor- und Nachteile.

Tille: Ich dachte zuerst, Geilster Club der Welt, das ist ein Klub zum Weggehen, eine Disko. Ich musste das erst einmal googlen.

Würden Sie auch in den See springen?

Steuerwald: Wenn sie solche Schandtaten wieder vorhaben, gehört das zu unserem Job, auch wenn die meisten das bestimmt nicht so cool finden. Aber ich hoffe, dass ich als Ältester aus der Nummer raus bin. Ich habe mir diese Dinge im Ausland schon angeschaut im Internet, weil ich das einfach witzig fand, wie ein Spieler nachts um drei geweckt wird und dann zum Beispiel "Heißer Draht", dieses Geschicklichkeitsspiel, spielen muss.

Herrsching weckt seine Profis nachts auf?

Steuerwald: Da kann man sagen: Geht doch nicht als Erstligaklub, Spieler nachts um drei zu wecken. Andererseits: Wenn die einmal eine Stunde kürzer schlafen, werden sie am Wochenende auch nicht schlechter spielen.

Ihnen ist künftig viel Schlaf zu wünschen, als Familienvater.

Steuerwald: Ach, wenn das Kind nach mir kommt - ich habe in der ersten Nacht komplett durchgeschlafen, sagt meine Mutter. Sie ist morgens um sechs völlig panisch aufgewacht und hat geschaut, ob ich noch lebe. Also: Mein Kind schläft durch, klar. Wie jedes Kind, das noch nicht geboren ist.

© SZ vom 24.10.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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