73-jähriger Stockschütze:Der echteste Amerikaner

Lesezeit: 3 min

Stock-narrisch: Als Eiswart in Thalkirchen kam US-Bajuware Chris Coonradt erstmals mit jenem Sport in Berührung, der ihm heute so viel bedeutet. (Foto: Robert Haas)

Vietnam-Veteran Chris Coonradt, 73, war Eiswart am Hinterbrühler See und Hotelier in South Carolina. Als Hachinger Stockschütze sammelt er WM-Einsätze

Von Fabian Swidrak, München

Mit einem dumpfen Ton fällt die Tür hinter Chris Coonradt ins Schloss und es dauert einige Augenblicke, bis sich der Hall in der Weite des Raumes verliert. Auf einer Holzbank stellt er seine Tasche ab, öffnet den Reißverschluss und holt drei Stöcke hervor. Es ist Dienstagvormittag, die Sonne scheint am hellblauen und wolkenlosen Himmel. Am Tegernsee, wo Coonradt wohnt, sagt er, sei es an solchen Tagen wunderschön. Er aber ist an diesem Morgen lieber in der kleinen düsteren Halle hinter dem Unterhachinger Sportpark und trainiert - allein.

"Da kann ich in einer Stunde mehr üben als mit der Mannschaft in zwei", sagt er und meint das weit weniger abschätzig, als es seine Worte vermuten lassen. Einzig: Ungestört kann er sich am besten konzentrieren. Stockschießen ist ein Präzisionssport, "ein Kopfspiel", wie Coonradt sagt. Seit sieben Jahren sind die Stöcke seine Leidenschaft. Er investiert viel Zeit in den Sport. So viel, dass er mit seinen 73 Jahren noch in der US-amerikanischen Nationalmannschaft spielt. Erst im Juli gewann er mit dem Team beim America Cup, der nordamerikanischen Kontinentalmeisterschaft der Stockschützen, die Silbermedaille.

Die Reise zum Turnier in Kanada habe er aus eigener Tasche bezahlen müssen, erzählt er. "Aber das war es mir wert." Die Medaille, die Nationalmannschaft, sein Heimatland: Coonradt ist ein stolzer Mensch. Auf seinem T-Shirt prangt die Flagge der Vereinigten Staaten, auf seiner rot-weiß-blauen Kappe stehen die Buchstaben USA. "Ich bin jetzt drin in diesem Sport. Mein Ehrgeiz ist so groß wie nie", sagt er. Dabei könnte sich der gebürtige New Yorker längst zurücklehnen und das Leben am Tegernsee genießen, anstatt dreimal pro Woche nach Unterhaching zu fahren.

Coonradt hat einst Karriere beim US-Militär gemacht, er schaffte es dort vom Gefreiten bis zum Offizier. Zweimal wurde er in den Vietnamkrieg geschickt. Es war die schlimmste Zeit seines Lebens. "Es hat zehn Jahre gedauert, bis ich wieder richtig schlafen konnte", sagt er. "Meinen Kameraden ging es genauso. Viele haben sich deshalb umgebracht." Noch heute leidet Coonradt an den Spätfolgen des Krieges. Die hochgiftigen Entlaubungsmittel, die damals zum Einsatz kamen, haben seine Niere geschädigt.

In Deutschland wurde er bereits als 18-Jähriger erstmals stationiert. Schnell lernte Coonradt Land und Leute schätzen, eine Münchnerin lieben, außerdem begann er Bairisch zu sprechen. An der Universität von Maryland besuchte er später auch Deutschkurse. Seine Dozentin aber schickte ihn bereits am zweiten Tag wieder nach Hause: "Mit meinem Dialekt sei ich ein hoffnungsloser Fall, sagte sie", erinnert sich Coonradt.

Nach seiner Pensionierung 1984 übernahm er zusammen mit seiner Frau den Kiosk am Hinterbrühler See im Münchner Süden. Noch heute kennen ihn viele Menschen dort als Eiswart. Coonradt befreite den See vom Schnee und präparierte das Eis für Schlittschuhfahrten, Curling und Eisstockschießen. "Ich bin oft nachts um eins aufgestanden und habe Schnee geschippt, bis es hell wurde", erinnert sich Coonradt, der dort erstmals mit jenem Sport in Berührung kam, an dem er heute so hängt. Nur Zeit hatte er damals keine.

"Ich habe 18 Stunden am Tag gearbeitet und hatte kein Privatleben", erzählt Coonradt. 13 Jahre lang machte er den Job, ehe er mit seiner Frau zurück in die USA ging. In South Carolina eröffneten sie ein Bed-and-Breakfast-Hotel mit 50 000 Quadratmeter großem See und einem Golfplatz. Ernüchtert stellte Coonradt fest: "Das war genauso viel Arbeit." Seit 2004 lebt Coonradt nun wieder in Deutschland, acht Jahre inzwischen am Tegernsee. Eines Winters begann er dort auf Eis zu spielen. Erst später wechselte er den Verein und schloss sich dem EC Parksee in Unterhaching an. "Dort gibt es die Halle, um auch im Sommer spielen zu können", sagt Coonradt. Auf Asphalt feierte er beim America Cup im Sommer mit dem Team-Silber auch seinen bisher größten Erfolg.

Der Verein ist stolz auf seinen Nationalspieler. Dennoch bekommt Coonradt nicht nur Lob und Respekt. "Einige sind neidisch. Das merkt man schon", sagt er, der bei Weitem nicht zu den besten Schützen im Klub zählt und nur in der zweiten Mannschaft spielt. Oft betont er daher: "Ich hatte Glück. In der deutschen Nationalmannschaft hätte ich nie eine Chance gehabt." Neben Österreich und Italien zählt Deutschland im Eisstockschießen zur absoluten Weltspitze, in den USA dagegen ist Curling weitaus populärer; der Sprung unter die besten US-Stockschützen war da viel leichter.

Fünf Spieler umfasst der Kader einer Nationalmannschaft im Stock- und Eisstockschießen. Neben Coonradt stehen aktuell zwei Spieler aus Graz im Team und zwei gebürtige Sonthofer. Alle vier wanderten in die USA aus. "Nur ich bin dort geboren. So gesehen bin ich noch der echteste Amerikaner", scherzt Coonradt. Im kommenden Februar findet im Südtiroler Ritten die Eisstock-Weltmeisterschaft statt. Im vergangenen Jahr in Innsbruck wurde Coonradt mit dem US-Team Fünfter. Diesmal wolle er aufs Podium. Coonradt sagt: "Dann würde ich auch meine Karriere beenden."

© SZ vom 07.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: