Neue Heimat:Starke Tochter einer starken Mutter

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2001 ist Gülser mit ihrem Mann und ihren zwei Söhnen aus Kirkuk nach Bayern geflohen. Nach entbehrungsreichen Anfangsjahren hat sich die Familie in München eine neue Existenz aufgebaut

Von Andrea Schlaier, Sendling-Westpark

Den Couscous zweimal waschen, die Flüssigkeit abschütten, eine Prise Salz drauf und das Ganze über Nacht quellen lassen. So hat es Gülser von ihrer Mutter gelernt, einer Frau, die mit ihren zehn Kindern, deren Freunden und ihrem Mann jeden Mittag zwischen 12 und 13 Uhr auf dem Boden vor dem flachen Tisch im Schneidersitz gegessen, geplaudert und gelebt hat. Im Norden des Irak, in Kirkuk. "Meine Mutter war stark", sagt Gülser, die hier nur mit ihrem Vornamen erscheinen will. "Eine Analphabetin, der die Ausbildung ihrer Kinder sehr am Herzen lag." Anwälte sind die geworden, Dozenten, Akademiker, durch die Bank. Als Gülsers Mann um deren Hand angehalten hatte, stellte die Mutter die Bedingung: Das Kind muss das Studium abschließen. Das machte Gülser und wurde erst Mathematiklehrerin, dann Gymnasialdirektorin. Jetzt ist die Turkmenin 45 Jahre alt und nach der Flucht mit Mann und beiden Söhnen aus der Heimat schwer rheumakrank. Sie steht am Herd der offenen Küche ihrer barrierefreien Wohnung in einem Mehrfamilienhaus in der Nähe des Luise-Kiesselbach-Platzes.

Das Schnippeln, Rühren und Braten hilft, wenn die Traurigkeit kommt. "Ich muss immer was tun, und eigentlich bin ich ein positiver Mensch", sagt die Frau, die ihr dunkelblondes Haar mit einer großen Blume zum lockeren Knoten gesteckt hat. Gülser stützt sich mit vom Rheuma gezeichneten schmalen Händen immer wieder an der Anrichte aus Buchenholz-Furnier ab, um die kranken Knie zu schonen. Sie schneidet die Petersilie, die später mit dem Couscous für den Tabula-Salat gemischt wird. Das Salz kommt aus Bad Reichenhall, das Biryani-Gewürz für die Hauptspeise aus Reis, Gemüse und Huhn hat ihr die Schwester aus dem Iran geschickt. "Dank Internet, Handy und Skype können wir uns jetzt regelmäßig sprechen", freut sich Gülser.

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(Foto: Catherina Hess)

Hat nicht nur in der Küche das Sagen: Gülser und ihre Familie haben in München eine neue Heimat gefunden.

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(Foto: Catherina Hess)

Die Muslima, hier beim Würzen ihres Biryanis, vermittelt heute zwischen Flüchtlingen und deutschen Institutionen...

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(Foto: Catherina Hess)

...und erklärt den einen die Kultur der anderen. Im Bild: Tabulasalat à la Gülser.

Jahrelang hatte die schmale Frau mit den leuchtend dunklen Augen keinen Kontakt zur Familie. Als ihr Mann im Jahr 2001 beschlossen hatte, sich als Angehöriger der turkmenischen Minderheit nicht länger von Saddam Husseins Schergen bedrohen zu lassen, sind sie mit ihren beiden Söhnen aufgebrochen. 10 000 Euro pro Person für die Schleuser. Zu Fuß in die Türkei, nach Griechenland, Italien. Gülser hält inne, welche erzählte Erinnerung will sie sich hier beim Kochen mit fremden Gästen antun? "Nachts im Wald in Italien haben wir unseren jüngsten Sohn verloren." Mit den Zeigefingern unter den Augen versucht sie die Tränen aufzuhalten. "Wir waren in zwei Flüchtlingsgruppen unterwegs. Der Schleuser hat uns verboten, laut zu sein, nach ihm zu rufen." Nach zwei Stunden haben sie ihn wieder gefunden. "Mir sind es wie 200 Stunden vorgekommen." Die ganze Flucht ein Albtraum aus falschen Schleuser-Versprechen, Angstzuständen und Zehennägeln, die nach Hunderten von Kilometern zu Fuß allesamt ausgefallen sind.

Bayern war im Jahr 2001 noch weniger als heute das Gelobte Land für ankommende Flüchtlinge. Der Bruch hätte nicht größer sein können. Die Familie - Gülsers Mann hatte "so was wie Buchhaltung studiert" -, in Kirkuk mit eigenem Haus und Auto, lebt in der Fremde vier Jahre lang in einem kleinen Raum. Die Arbeitserlaubnis kommt immer erst, wenn das Job-Angebot schon wieder anderweitig vergeben ist. "Mein Mann war so frustriert, dass er zurück in den Irak wollte." Aber was sollten sie in einer von Krieg und Terror gepeinigten Heimat? Gülser streut zischend gewürfelte Kartoffeln ins heiße Sonnenblumenöl: "Meine Familie sagt inzwischen: 'Gott liebt Euch, weil ihr jetzt nicht im Irak leben müsst!' "

Die Liebe zu Gott wird herausgefordert, als Gülsers Mann als Putzkraft arbeitet und ihm die Mittel die Hände regelrecht verätzen. Sie selbst hat mehr oder weniger inoffiziell Deutsch gelernt, sich bei der Caritas als Hausaufgabenhilfe angedient: "Für Mathe braucht man nicht viel Sprache". Ehrenamtliche brachten ihr in einer Frauengruppe Deutsch bei. Gülser, die neben Turkmenisch auch Arabisch, Kurdisch und Englisch spricht, wurde zur Kultur-Dolmetscherin ausgebildet. Die Muslima vermittelt zwischen Neuankömmlingen in der Stadt und deutschen Institutionen, erklärt den einen die Kultur der anderen.

Währenddessen haben ihre Söhne, die bei der Ankunft in München zehn und elf Jahre waren und kein Wort Deutsch gesprochen haben, ihren Schulabschluss und eine Lehre absolviert. Mehr als erfolgreich. Der Älteste ist inzwischen in leitender Funktion beschäftigt. "Unsere Kinder waren immer wunderbar, und jetzt setzen wir uns zum Essen, auch wenn nicht so viele am Tisch sitzen wie daheim." Sagt die starke Tochter einer starken Mutter aus Kirkuk. "Guten Appetit oder Afyat olsen!"

© SZ vom 08.04.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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