Rückblick 2014:Die Machtprobe

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Im Oktober müssen Flüchtlinge in München draußen schlafen. Weil der Freistaat nicht handelt, greift Bürgermeister Dieter Reiter ein - und rückt damit auch die Machtverhältnisse im Rathaus zurecht.

Von Bernd Kastner

Als Dieter Reiter an jenem Montagmittag Raum 209 im Rathaus betritt, ahnt niemand, dass der SPD-Oberbürgermeister gleich tut, was er nicht darf. Reiter verkündet, dass fortan die Bayernkaserne für neu ankommende Flüchtlinge geschlossen sei. Handstreichartig übernimmt der OB damit die Regie über die Erstaufnahme von Asylsuchenden, für die er gar nicht verantwortlich ist. Zuständig ist der CSU-regierte Freistaat. Eigentlich.

Drei Tage zuvor, am 10. Oktober, hat Reiter die überfüllte Bayernkaserne in Freimann besucht. Sofort war er umzingelt von Flüchtlingen, die ahnten, dass der große Mann mit der Krawatte einer sein muss, der ihnen helfen kann. Sie berichteten ihm vom Leben hinter der Kasernenmauer, in der Erstaufnahmezentrale für Südbayern. 2400 Menschen waren in jenen Tagen dort untergebracht, dazu eine unbekannte Zahl unregistrierter Flüchtlinge.

Flüchtlinge schlafen im Freien

Die Verwaltung der Regierung von Oberbayern war kollabiert, viele Menschen hatten Nächte im Freien verbracht. Am Abend zuvor war der Unmut so groß geworden, dass Dutzende die Heidemannstraße besetzten - bis Regierungspräsident Christoph Hillenbrand das Zeltlager im Kapuzinerhölzl als Notlager öffnen ließ.

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Auch zwei bayerische Minister schauten an jenem Tag in der Kaserne vorbei, Ludwig Spaenle und Emilia Müller, zuständig für Kultus, fürs Soziale - und fürs Beschwichtigen. Während um sie herum Chaos war, verteidigten sie das bisherige Handeln der Staatsregierung und beteuerten, dass doch wirklich niemand diesen rapiden Anstieg der Flüchtlingszahlen habe vorhersehen können. Sie wirkten, als hätten sie jahrelang nicht mal die Tagesschau um acht eingeschaltet und nichts von den Kriegen in der Welt mitbekommen.

Ein paar Meter neben ihnen stand Reiter im Gespräch mit Flüchtlingen. Man konnte ihn beobachten, wie er von Minute zu Minute wütender wurde, auch über Ministerin Müller. Irgendwann im Laufe des Wochenendes hat Reiter sich entschlossen zu handeln. Die Flüchtlinge schliefen schließlich unter Münchner Himmel.

Und so kommt es zur Pressekonferenz im Rathaus: "Die Staatsregierung hat absolut versagt", sagt Reiter. Er gründet einen eigenen Krisenstab, schickt eigenes Personal in die Kaserne, will Zelte aufstellen lassen, große Zelte, notfalls Wiesnzelte. Dass er diese Ankündigung später zurücknehmen und sich von Experten belehren lassen muss, dass jedes feste Gebäude besser als ein Zelt sei, tut der Wucht seines Auftritt keinen Abbruch. Die Regierung fügt sich, fortan werden Flüchtlinge im Euro-Industriepark registriert.

Reiter gewinnt an Profil

Überraschend kam das Desaster nicht: Schon im Juni hatte die Regierung Hunderte Feldbetten in alte, schäbige Militärgaragen stellen lassen. Anfangs standen zwischen den Stockbetten Wassereimer, weil das Dach undicht war. Spätestens im Oktober wird die Bayernkaserne bundesweit zum Synonym für Unvermögen und Unwillen im Umgang mit Schutzsuchenden. Jetzt reagiert auch Seehofer. Er schickt seinen Staatskanzleichef Marcel Huber als Krisenmanager ins Sozialministerium und lässt einen Winternotfallplan erstellen: Überall müssen Kommunen Plätze für Flüchtlinge schaffen.

Ganz nebenbei hat Reiter mit seinem Kasernen-Dekret auch die Machtverhältnisse im Rathaus zurecht gerückt. Bis dahin war er gefühlt Teil einer Doppelspitze mit seinem einstigen Wahlkampfgegner und jetzigen Koalitionspartner Josef Schmid von der CSU. Nun ist endgültig klar, wer der Ober-Bürgermeister ist. Reiter gewinnt mächtig an Profil in der Kasernen-Krise als einer, der handelt. So ist es auch, als im November Flüchtlinge am Sendlinger Tor in den Hungerstreik treten und vor der Polizei auf die Bäume flüchten: Reiter schimpft nicht wie CSU-Minister, er redet mit ihnen, bewegt sie zum Abstieg und lädt sie ins Rathaus zum runden Tisch ein.

Als zwei Tage vor Heiligabend geschätzt 15 000 Menschen vor der Oper den Geflohenen ein "Willkommen" zurufen, ist es wieder Reiter, der schlichte, aber klare Worte findet. In dieser Stadt sei Platz für Flüchtlinge, ruft er: "Nicht nur ein Dach über dem Kopf und etwas zu Essen werden wir anbieten, nein, ich will dass diese Flüchtlinge bei uns eine Heimat finden!"

© SZ vom 31.12.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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