Rosa Baier rettete Zwangsarbeiter:Angst? Eigentlich nicht

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Die 100-jährige Münchnerin Rosa Baier hat im Zweiten Weltkrieg dem ukrainischen Zwangsarbeiter-Jungen Peter Perel das Leben gerettet - und findet nichts Besonderes daran.

Christina Warta

Das Haus, in dem Rosa Baier wohnt, liegt in einer stillen Gasse in Waldperlach. Autos parken am Straßenrand, Laub liegt am Bordstein, eine Frau schiebt einen Kinderwagen den Bürgersteig entlang. Eine ruhige Wohngegend ist es, eine wie viele in den Außenbereichen von München. Hier kann man einem ganz besonderen Menschen einen Besuch abstatten.

Rosa Baier ist in diesem Jahr 100 geworden. Im Zweiten Weltkrieg rettete sie einem Zwangsarbeiter das Leben. (Foto: Catherina Hess)

Rosa Baier ist eine alte Dame - und man beleidigt sie nicht, wenn man das so geradeheraus formuliert, denn sie ist in diesem Jahr 100 geworden. Ein außergewöhnliches Alter ist das, und Rosa Baier hat dementsprechend viel erlebt. Sie hat, als neunjähriges Mädchen auf einer Mauer am Nockherberg sitzend, den Trauerzug für den ermordeten bayerischen Ministerpräsidenten Kurt Eisner beobachtet.

Sie hat Zeppeline über die Stadt fliegen sehen und die Inflation erlebt - "da hattest du einen Rucksack voll Geld, und am nächsten Tag war es nichts mehr wert". Und zwischendurch, als junge Frau, hat Rosa Baier dem ukrainischen Zwangsarbeiter-Jungen Peter Perel das Leben gerettet.

Rosa Baier ist eine zierliche Person mit ganz weißen Haaren und einem freundlichen Gesicht, sie ist immer noch drahtig und flink. Sie hört und sieht nicht mehr so gut, weswegen man ein bisschen schreien muss, wenn man sich mit ihr unterhält. Im Wohnzimmer fliegt nirgends auch nur ein Staubflöckchen herum, die Plastikblumen in einer Vase sind hübsch arrangiert. "Ich darf da nichts anrühren", sagt ihre Schwiegertochter Anna Baier, "das macht sie alles selbst." Noch immer kocht und putzt Rosa Baier, jätet im Garten das Unkraut - und tut also einfach, was eben getan werden muss. So, wie sie es immer getan hat.

Hat sie denn damals, 1944 und 1945 in Hitler-Deutschland, nicht Angst gehabt, einem Zwangsarbeiter zu helfen? "Eigentlich nicht", sagt sie nur und zuckt mit den Schultern. Mehr gibt es aus ihrer Sicht nicht zu sagen.

200.000 Zwangsarbeiter in München

Peter Perel war 14 Jahre alt, als er 1942 nach München kam. Der Junge war aus seiner Heimat, der Sowjetunion, verschleppt worden und musste in einem Schlosserbetrieb als Zwangsarbeiter Dienst tun. "Menschenmaterial" hießen in der Naziterminologie die Menschen aus dem Osten, die gegen ihren Willen deportiert worden waren. Sie arbeiteten auf Bauernhöfen, besserten Straßenbahngleise aus oder bauten in Fabriken Panzer zusammen. Insgesamt gab es in München rund 200.000 Zwangsarbeiter, Frauen und Männer, und mehr als 400 Lager, in denen die Menschen unter oft unwürdigen Umständen leben mussten.

Praktisch kein Betrieb verzichtete auf die billigen Arbeitskräfte - schließlich fehlten ihnen die deutschen Männer, die an der Front Kriegsdienst leisteten. Und es waren nicht nur große Unternehmen wie BMW oder Loden Frey, die von Zwangsarbeitern profitierten, sondern auch kleine Bäckereien oder Schlossereien, ja sogar Theater oder auch Krankenhäuser, die sich der billigen Arbeitskräfte bedienten.

In einer solchen Schlosserei lernten sich 1943 Rosa Baiers Mann Josef und Peter Perel kennen. "Mein Mann hat den Russen-Peter zu uns mitgebracht", erzählt Rosa Baier. "Russen-Peter" - so nannten sie ihn damals unbeholfen-liebevoll, und so nennt ihn Rosa Baier noch heute. Das Ehepaar Baier lebte mit seinen Söhnen Günther und Peter sowie Rosa Baiers Eltern seit 1927 etwas außerhalb von München, in Berg am Laim.

Baier und Perel freundeten sich an, und als Baier im Garten eine Art Bunker für Rosa und die Kinder anlegen wollte, da half ihm Perel gerne. Heimlich flüchtete er an Wochenenden aus dem Zwangsarbeiterlager, um Josef Baier beim Graben zu helfen. Längst kannte Perel die ganze Familie, und als Baier im Herbst 1943 doch noch in den Krieg ziehen musste, da besuchte Peter Perel die Baiers trotzdem hin und wieder - obwohl den Männern mit dem Abzeichen "Ost" auf der Kleidung Kontakte zu Deutschen streng verboten waren.

In diesem Haus hat Rosa Baier den Russen Peter Perel vor den Nazis versteckt. (Foto: privat)

"Er ist manchmal zu uns zum Essen gekommen", erinnert sich Rosa Baier. Und nicht nur er, denn das Baier'sche Haus war ein offenes in diesen Tagen. "Bei uns verkehrten viele Kroaten, und eine Jüdin hat gekocht", sagt sie. "Meine Mutter hat alle aufgenommen." Ende Januar 1945 aber wurde Perel verhaftet und ins Konzentrationslager Dachau eingeliefert - ohne Begründung. Arbeiten musste er nun am Hauptbahnhof.

Im April 1945, als an der Bahnlinie bei Berg am Laim immer häufiger schon mittags die Bomben einschlugen und die amerikanischen Alliierten näher und näher rückten, stand "der Russen-Peter" plötzlich vor der Tür. Vom Todesmarsch, zu dem die KZ-Häftlinge in den letzten, schlimmen Tagen vor Kriegsende hatten aufbrechen müssen, war dem Jungen die Flucht gelungen. Stundenlang hatte er sich in einem Gebüsch vor der SS verborgen, sich in der Dunkelheit schließlich nach Berg am Laim durchgeschlagen.

Dort ging die Tür auf, Rosa Baier holte den durchgefrorenen Peter Perel ins Haus und - ließ ihm erst einmal ein heißes Bad ein. "Das war das Paradies für mich", sagte Perel später. Die Familie teilte das wenige Essen mit ihm, Rosa Baier bereitete ein Bett in einer versteckten Kammer.

Dort blieb Peter Perel, stundenlang, tagelang. Erst am 1. Mai traute er sich wieder hinaus: Das KZ war befreit, ebenso die Zwangsarbeiterlager. Dorthin radelte er auf einem geliehenen Fahrrad und bat um Gaben für seine Retter. Mit neuer Bettwäsche, Wurst und Butter bedankte er sich bei ihnen.

Das alles ist nun 65 Jahre her. Kürzlich ist Rosa Baier, auf Betreiben von Peter Perel, von der KZ-Gedenkstätte Dachau geehrt worden. Und trotzdem: Rosa Baier ist keine, die sich etwas auf ihre guten Taten einbildet. Im Gegenteil: Sie scheint all die Fragen nicht recht zu verstehen, nach der Angst, dem Risiko, den allgegenwärtigen Nazis damals. Denn am Sachverhalt gibt es für sie nichts zu deuteln: Da waren Menschen, denen man helfen musste, die Hunger hatten, einen Schlafplatz suchten. Also half sie ihnen, gab zu essen, überzog ein Bett. Dass andere Menschen diesen Mut nicht aufgebracht haben oder sie sogar hätten denunzieren können - dessen war sie sich schon bewusst. Interessiert hat sie es trotzdem nicht.

"Sind Sie der Russen-Peter?"

Vielleicht, weil sie es ja selbst nie einfach gehabt hat: Rosa Baier wurde in München geboren und galt dennoch, weil ihr Vater Kroate war, als Außenseiterin. Sie wuchs mit vier Geschwistern unter ärmlichen Umständen in der Au auf, "wo das Wasser an der Wand herunterlief". Arbeitete später in jüdischen Geschäften in der Innenstadt, beim Warenhaus Uhlfelder etwa, und sah nach der Reichspogromnacht 1938 die schreckliche Zerstörung. "Es war alles kaputt damals", sagt sie und schüttelt den Kopf.

Peter Perel ging nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zurück in die Ukraine, erst 2000 zog er mit seiner Familie wieder nach Deutschland. 2002, als er als Zeitzeuge nach Dachau reiste, kam er auch nach Berg am Laim. "Ein Mann stand vor der Tür und sagte: Ich habe hier einen Bunker gebaut", erzählt Anna Baier, die schon lange mit ihrer Familie in dem Haus wohnt, in dem Perel damals Unterschlupf fand. "Ich kannte ja die Geschichten und habe sofort gefragt: Sind Sie der Russen-Peter?"

Anna Baier fuhr Perel zu ihrer Schwiegermutter, nach 57 Jahren haben sich die beiden wiedergesehen. Perel konnte kaum glauben, dass seine Retterin noch lebt. Und Rosa Baier sagt: "Ich habe ihn erst gar nicht erkannt." Dann war die Freude, die Rührung groß. Seither sehen sie sich einmal im Jahr, obwohl es für beide wegen ihres hohen Alters nicht leicht ist. Aber manchmal muss man Dinge eben auch dann tun, wenn sie nicht einfach sind.

© SZ vom 01.12.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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