Obdachlose in München:Kekse um Mitternacht

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Im Winter, wenn kalter Wind weht und die Temperaturen unter Null fallen, haben es Wohnungslose besonders schwer. (Foto: dpa)

Nachts, wenn es richtig kalt wird, klingelt oft das Telefon: Besorgte Bürger können beim Verein Golden Donkey anrufen, wenn sie frierende Obdachlose in München sehen. Helfer versorgen die Menschen dann mit dem Nötigsten.

Von Axel Hechelmann

Minus vier Grad zeigt das Display im Auto an. Tobias Irl hat seinen Kofferraum vollgepackt. Fünf Paletten mit Tee, belegten Semmeln, Kaffee, eine große Tasche mit Jacken, mit Decken. Und er hat ein Dutzend Packungen Kekse mitgenommen - alles Spenden. Schlafen wird der 36-Jährige in dieser Nacht wenig. Irl trägt ein blau-weißes Hemd unter seinem grauen Pullover, die mittellangen Haare sind ordentlich gekämmt. Tagsüber verkauft er Autos, nun wird er 60 Kilometer quer durch die Stadt fahren, um Obdachlose mit dem Nötigsten zu versorgen.

Sieben ehrenamtliche Helfer sind in dieser Nacht für den Verein Golden Donkey in München unterwegs. Den Verein gibt es seit 2009, vergangenes Jahr wurden unter anderem 102 Schlafsäcke verteilt, gerade hat der Verein einen Kältebus ins Leben gerufen. Zur akuten Versorgung von Obdachlosen. Irl ist mit seinem Auto unterwegs. Die Vorsitzende des Vereins ist seine Frau Jasmin, Irl selbst Mitinitiator. Er wollte einfach helfen, erzählt er.

Die Wittelsbacherbrücke ist sein erstes Ziel an diesem Abend. Der Wind zieht durch die Brückenbögen. Kälte. Unter der Brücke ist es finster. Niemand da. "Seit einem Jahr war er immer hier, bis gestern. Jetzt ist er weg", sagt Irl. Ratlosigkeit. Der Mann, den Irl hier erwartet hatte, sei Anfang 60 und zuckerkrank. Seine Füße können ihn nicht weit getragen haben, sagt Irl. "Wahrscheinlich wurde er ins Krankenhaus gebracht." Am nächsten Tag will er noch einmal jemanden schicken

Besorgte Bürger können über eine Hotline anrufen, wenn sie frierende Obdachlose in München sehen. Ein Anrufer meldet Rumänen und Ungarn an der Theresienhöhe. Ein Fehlalarm, die Gruppe ist bereits weitergezogen. Doch an der Dachauer Straße liegt Josef auf einem alten Teppich an einer Hauswand. Die graue Mütze hat er weit in die Stirn gezogen, er trägt einen dichten, grauen Bart und hat ein freundliches Gesicht. Der Mann ist seit acht Monaten obdachlos. Bevor er auf der Straße landete, war er Puppenspieler - "staatlich anerkannt", sagt er mit erhobenem Zeigefinger und lächelt. Wie genau er obdachlos wurde, erzählt er nicht. Es habe mit seiner Frau zu tun und mit einem heftigen Streit.

"Entschuldigung", sagt Josef, weil er einen Schluck Kaffee aus dem Pappbecher nimmt. "Solange er noch warm ist." Er deutet auf den Becher. Tagsüber bittet er Passanten um ein wenig Kleingeld oder um etwas zu essen. Eine Frau unterhält sich oft mit ihm. "Vorbeizulaufen und Geld reinzuwerfen ist die eine Sache. Mit jemandem ins Gespräch zu kommen - das ist genial", sagt er. Seine Augen tränen. Vielleicht ist es die Kälte. Er bekommt eine neue Decke und eine belegte Semmel, dann geht es weiter.

Tobias Irl kümmert sich seit drei Jahren um Obdachlose. Etwa 300 gibt es nach Schätzungen des Vereins in München. 45 versorgen er und seine Helfer regelmäßig. Die Unterkünfte der Stadt möchten die Obdachlosen oft nicht nutzen. Es heißt: Wer einmal da war, wisse warum.

Doch lange wird Irl diese wichtige Arbeit nicht mehr machen. Das gehe zu sehr an die Substanz, sagt er. Irl hat Familie, drei Mädchen, die jüngste ist erst zwei Jahre alt. Und auch, wenn er nicht jeden Tag raus muss - manchmal ist er die ganze Nacht unterwegs. "Lieber hundert Mal umsonst versucht zu helfen, wenn es einmal doch erfolgreich ist", sagt der 36-Jährige. Ein Anruf. "Im Tal muss ein Optiker sein, da muss wohl einer liegen, ganz schlecht bekleidet", sagt Irl.

Der Obdachlose ist nicht vor dem Optiker. Er hat sich auf ein Gitter vor einem Lampengeschäft hingelegt. Dutzende Lampen leuchten das Schaufenster aus. Der Mann zieht die Decke über den Kopf, als Irl auf ihn zugeht. Dann bittet er doch um eine Jacke, zu essen will er nichts. Er schämt sich, etwas anzunehmen, vermutet Irl.

Kerze für die Toten

Der letzte Stopp in dieser Nacht, es ist inzwischen Mitternacht: In einem Park liegen vier Obdachlose auf einem Gitter. Warme Luft bläst aus dem Schacht - frieren müssen sie hier nicht. Einer der Obdachlosen hat ein Radio geschenkt bekommen. "Was wären die Menschen ohne die Musik?", sagt er. Er ist betrunken. Ein trostloser Ort, der durch Musik und Bier erträglicher wird.

Irl gibt den Männern warme Jacken und ein paar Kekse. Sie freuen sich und trinken weiter. "Ich zünde eine Kerze an, für alle, die mal hier waren", sagt einer. Er meint die Leute, die die Straße nicht überlebt haben.

Obdachlose gesehen? Anrufe über die Hotline 0800 / 123 2 321 sind kostenlos. Weitere Informationen zum Verein und zum Projekt Kältebus gibt es unter www.golden-donkey.de. Der Verein hat ein Spendenkonto eingerichtet. Sachspenden können nicht mehr angenommen werden, weil die Lagerkapazitäten erreicht sind.

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