Musik:Hast du Töne

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Der Tölzer Knabenchor hat ein sehr münchnerisches Nachwuchsproblem: Immer mehr Eltern arbeiten Vollzeit und schaffen es kaum, ihre Söhne nachmittags zum Singen nach Sendling zu bringen - nun ist ein Hort geplant

Von Pia Ratzesberger

Ari Wolter bläst die Backen auf, er stemmt die Hände in die Hüften, als stünde er schon auf einer großen Bühne. Aber er ist ja erst seit etwa einem Jahr dabei. Er steht vor dem Klavier seines Lehrers, in einem kleinen Zimmer in Sendling, 60 Minuten Einzelunterricht. Der Lehrer erinnert ihn mit einem Tippen an sein Kinn, noch weiter nach oben, und Ari Wolter singt jetzt "Das Wandern ist des Müllers Lust". In Wanderschuhen.

Ari Wolter ist acht Jahre alt und einer der Tölzer Chorknaben, die trotz ihres Namens schon seit den Siebzigerjahren nicht mehr in Bad Tölz proben, sondern in München. Während mancher bekannte Knabenchor klagt, dass kaum junge Leute nachkommen, macht man sich in Sendling noch keine Sorgen. Der Tölzer Knabenchor sucht sogar neue, größere Räume - allerdings auch um vorzubeugen, dass es irgendwann vielleicht doch Probleme mit dem Nachwuchs geben könnte.

Gegenüber dem kleinen Probenraum, in dem Ari Wolter gerade probt, wartet die Chefin des Tölzer Knabenchors, Barbara Schmidt-Gaden, in Jeans und T-Shirt. Sie ist 46 Jahre alt, stand selbst lange als Opernsängerin auf der Bühne, das merkt man ihr an, wenn sie spricht. Als junges Mädchen hat sie viele Jahre im Knabenchor mitgesungen - für die Tochter des Gründers machte man damals eine Ausnahme, der Tradition zum Trotz. "Ich war dann eben Knäbin." Und gerade wenn eine Frau einen Knabenchor führt, stellt sich natürlich die Frage, ob man vielleicht nicht doch auch einmal Mädchen ...? Schmidt-Gaden sagt dazu nur: "Ich würde nicht ausschließen, dass wir irgendwann auch einen Mädchenchor gründen."

Es begann damals in Bad Tölz mit einer Pfadfindergruppe, die Mitglieder stimmten auf ihren Ausflügen Volkslieder an, und als sich die Gruppe Ende der Fünfzigerjahre auflöste, übernahm der Vater von Barbara Schmidt-Gaden die Leitung, noch als Gymnasiast. "Es war aber bald klar, dass es in einer kleineren Stadt wie Bad Tölz zu wenig Auswahl an Sängern gibt, um einen Chor erfolgreich zu machen." In den Siebzigerjahren also der Umzug nach München.

Mund auf, Brust raus: Clemens Haudum probt mit dem Chor der Sieben- bis Achtjährigen. (Foto: Florian Peljak)

Heute proben mehr als 180 Jungen in vier Klassen, anders als in der Schule ist aber die Klasse eins die erfahrenste. In Klasse eins geht es dann auch auf Reisen, gerade kamen drei Jungs von Auftritten in Tokio und Hiroshima zurück. Bis zum Stimmbruch singen die Buben im Tölzer Knabenchor, und später verbleiben manche von ihnen im Männerchor. An diesem Samstag, dem Tag der offenen Tür, tragen viele Jungen stolz ihre roten Poloshirts mit dem Wappen zur Schau. Einer von ihnen sagt: "Einmal Tölzer, immer Tölzer."

Es läuft meistens nicht so, dass Eltern ihr Kind zum Knabenchor schicken, sondern so, dass der Knabenchor das Kind zu den Eltern schickt - mit einem Zettel in der Hand. Stimmbildner gehen immer wieder durch die Volksschulen in Stadt und Umland, um Ausschau nach Talenten zu halten. Wenn sie den Zettel mit nach Hause geben, auf dem steht, dass das Kind besonders begabt sei, sagen die Eltern aber oft nur: "Die Woche ist schon zu voll."

Die Chefin, Barbara Schmidt-Gaden, verteilt an diesem Tag deshalb werbende Zettel für eine neue Klasse, für Kinder im Vorschulalter. "Musikalische Frühförderung" steht darauf. Sie will die ganz jungen zum Tölzer Knabenchor holen, bevor die Nachmittage bereits mit Judo verplant sind. "Wir proben ohnehin nicht so oft wie andere Chöre, aber dafür intensiv." An den Wänden hängen Plakate von Auftritten in der Wiener Staatsoper und der Opéra Bastille in Paris.

Andere berühmte Knabenchöre, die Regensburger Domspatzen zum Beispiel, haben oft auch Internate, bei den Tölzer Chorknaben ist das anders, jeder wohnt zu Hause. Der Skandal um Missbrauchsfälle bei den Domspatzen habe sich zum Glück nie auf die Anmeldezahlen bei ihrem Chor ausgewirkt, sagt Schmidt-Gaden. Probleme gibt es trotzdem. Sie trifft immer wieder Eltern, die ihr Kind eigentlich gerne anmelden würden, aber wenn beide Vollzeit arbeiten, habe nun einmal niemand Zeit, dass Kind dreimal die Woche nach Sendling zu fahren. Zu den zwei Chorproben, dem Einzelunterricht. Und in München müssten doch viele Paare Vollzeit arbeiten, um sich die Stadt überhaupt leisten zu können. Barbara Schmidt-Gaden will den Tölzer Knabenchor deshalb zum Hort ausbauen.

Insgesamt 180 Jungen singen beim Tölzer Knabenchor - aber nur, bis sie in den Stimmbruch kommen. Danach geht es für alle, die wollen, im Männerchor weiter. (Foto: Florian Peljak)

Im Jahr 2020 wird der Mietvertrag für die 800 Quadratmeter auslaufen, dann will sie in größere Räume umziehen und dort Nachmittagsbetreuung anbieten, im besten Falle sogar eine eigene Kita eröffnen. Der Vater von Ari Wolter, drüben im kleinen Probenzimmer, sagt: "Das würde vieles erleichtern." Seine Frau arbeitet und er auch, die Fahrten übernehmen sie trotzdem, seit der Sohn damals den Zettel mit nach Hause gebracht hat. Einfach sei das nicht, aber der Sohn habe eben großen Spaß an der Musik. Ari Wolter stemmt jetzt wieder die Hände in die Hüften. Er übt noch ein italienisches Stück.

Ein paar Zimmer weiter, am Ende des Gangs stehen seine Kollegen am Tag der offenen Tür gerade vor Publikum, es findet gleich eine der Chorproben statt. Bevor es losgeht, wirkt der Haufen Jungs nicht, als würde er gleich eine Oper singen. Die einen kichern, die anderen schwätzen und einer weint, weil er seine Noten nicht findet. Doch wenn der Lehrer dann die ersten Töne auf dem Klavier erklingen lässt, ist es ruhig. Die Jungen stehen da, als würde es nichts geben außer ihnen und der Musik. Rücken gerade, Münder weit offen. Die Türe öffnet sich, Barbara Schmidt-Gaden kommt mit einem Packen Noten rein, der Junge aber, der die seinen verlegt hat, schüttelt jetzt den Kopf: "Kann ich doch sowieso auswendig." Sie singen weiter.

© SZ vom 07.05.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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