Mitten in Solln:Das Mysterium vom S-Bahnhof

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An der belebten Verkehrsdrehscheibe gehen nicht nur Passagiere, sondern auch Gedanken auf Reisen

Von Jürgen Wolfram

An der Kasse des Reformhauses diskutieren sie gerade darüber, ob man morgens nach dem Aufstehen erst mal ein Glas lauwarmes Wasser trinken sollte. Um Neuerscheinungen aus dem Segment der Biografien geht's vor dem Schaufenster des Buchladens. Beim Kino bewerten Passanten die Familienfreundlichkeit des Osterprogramms. Kein Zweifel: Die Gegend um den S-Bahnhof Solln ist ein kommunikatives Pflaster und keineswegs nur eine Verkehrsdrehscheibe mit Busanschluss in alle Himmelsrichtungen.

Ein Klassiker lässt sich tagtäglich auf dem Bahnsteig Richtung Stadtmitte beobachten: Im Studium des MVV-Tarifgeflechts weit Fortgeschrittene erläutern irritierten Auswärtigen die Vorzüge der Single-Tageskarte oder weihen sie in die Geheimnisse der Zonen- und Streifen-Arithmetik ein. Seit der Manager Dominik Brunner hier am 12. September 2009 von Jugendlichen totgeprügelt wurde, weil er selbstlos vier gewaltbedrohte Schüler zu verteidigen versucht hatte, sind am sonst so friedlichen Bahnhof Solln auch die Themen Verrohung und Zivilcourage Dauerbrenner. Dafür garantiert das Mahnmal der Dominik-Brunner-Stiftung mit seinem aufrüttelnden Molière-Zitat: "Wir sind nicht nur verantwortlich für das, was wir tun, sondern auch für das, was wir nicht tun."

Neuerdings versuchen viele Sollner unter Aufbietung all ihrer spekulativen Fähigkeiten, ein großes Rätsel zu lösen, während sie auf den Zug warten: Warum nur ist der solide gemauerte Bahnhofskiosk, das "Backhaus Café", nach kurzer Blüte wieder geschlossen worden? Kaum war man geneigt, seine Frühstücksgewohnheiten dem neuen Angebot anzupassen, da gibt der Pächter auf, und niemand weiß, warum, und wohin es ihn verschlagen hat. In einem Stadtviertel, das dank gesunder Kaufkraft so ziemlich jeder Geschäftsidee ihren Raum lässt, in dem es Läden gibt, die "Achwiesüß" oder "Caratheum" heißen - da wird eine Geschäftsaufgabe wie die am gut frequentierten S-Bahnhof zum Mysterium. Oder zur detektivischen Herausforderung. Wir werden sie annehmen. Aber zunächst im Morgengrauen lauwarmes Wasser trinken, um zu testen, wie bekömmlich das wirklich ist.

© SZ vom 01.04.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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