Mitten in Solln:Aus der Zeit gefallen

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Vom mächtigen Turm der Kirche St. Johann Baptist waren über Weihnachten plötzlich die Uhrzeiger verschwunden. Jetzt sind sie glücklicherweise wieder aufgetaucht

Von Jürgen Wolfram

Herrschaftszeiten! Wieder mal partout nicht feststellbar, was die Stunde geschlagen hat. Die Batterie der Armbanduhr - unbemerkt erlahmt. Das Handy? Zuhause vergessen. Die Uhr an der S-Bahnstation? Zur Unzeit stehen geblieben. Verstohlene Blicke auf die Armaturen geparkter Autos helfen nicht, weil die Leute die Umstellung von der Sommer- auf die Winterzeit oder umgekehrt nie exakt hinkriegen. Der einzige Passant weit und breit rennt zeitlich orientierungslos durch die Gegend, schätzt, dass es "um halb fünf herum" sein müsse. Wahrscheinlich achtet er auf den Sonnenstand.

Und dann im Krankenhaus: Am einen Ende des 40-Meter-Ganges zeigt die Uhr 17.34, am anderen 14.15 Uhr. Wer, bitte, hat hier denn an der Uhr gedreht? Zeitlebens das gleiche Theater: Wenn man wegen einer Verabredung darauf angewiesen wäre, zu erfahren, wo die Zeiger stehen, rasen sie scheinbar wahllos auf dem Zifferblatt umher oder sind erstarrt. Man möchte sich eine Auszeit nehmen von all der Konfusion, denn sie geht einem gehörig auf den Zeiger.

Alles nichts gegen die Probleme, mit denen die Leute in Solln bis vor ein paar Tagen konfrontiert gewesen sind. Vom mächtigen Turm der Kirche St. Johann Baptist waren plötzlich die Zeiger verschwunden, auf allen Seiten. Eine Katastrophe, zu vergleichen höchstens mit einem Erdbeben. Man muss wissen, dass dieses erhabene Gotteshaus so etwas verkörpert wie das unverwüstlich robuste Herz des Stadtviertels; sein Takt schlägt gewichtig wie ein biblisches Gebot. Und, mit etwas Gottvertrauen, präzise wie der Chronometer in Greenwich.

Mit der Zeit verschleißt jedoch selbst dieses, scheinbar für die Ewigkeit gefertigte, filigrane Uhrwerk. Und so waren es mitnichten tolldreiste Diebe, die sich, vom Blattgold geblendet, in schwindelnde Höhen begaben, um den Sollnern die Zeit zu stehlen. Vielmehr nahmen Restauratoren die Einzelteile der Kirchturmuhr in Obhut, um sie gründlich zu warten. An Weihnachten waren sie dann wieder an ihrem Platz. Gott sei Dank, sagt man erleichtert im Stadtteil. Denn auf Bahnhofsuhren, Autowecker und Signale vom Armband ist nun wirklich kein Verlass.

© SZ vom 30.12.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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