Mitten in der Altstadt:Alles im Eimer

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Wer am Marienplatz auf die S-Bahn wartet, sieht jeden Tag, wie die Zeit verrinnt. Man muss nur den Wassereinmer finden, in den es stetig tröpfelt und der Reisende vor etliche Rätsel stellt

Von Jutta Czeguhn

Gefühlt seit einer Ewigkeit stolpert man über diesen roten Eimer auf dem S-Bahnsteig am Marienplatz. Immer an der gleichen Stelle unweit der Rolltreppe fängt er Wasser auf, das von der Decke tropft, bling, blub, bling, blub . . . Der Pariser Schriftsteller Georges Perec, der mal einen Roman lang auf den Buchstaben E verzichtete, befand einst: "Leben heißt, von einem Raum zum anderen zu gehen und dabei so weit wie möglich zu versuchen, sich nicht zu stoßen." Perec war ein Listenschreiber, Satzspieler und Fabulierer, der alles notierte, was er so wahrnahm. Der rote Eimer hätte ihm gefallen.

Manchmal kommt man nämlich nicht umhin, dem Eimer eine Weile Gesellschaft zu leisten. Wäre man Georges Perec, könnte man dann viel aufschreiben, etwa so: "Gerade befindet sich eine Frau auf direktem Kollisionskurs mit dem Eimer. Sie starrt auf ihr Handy. Schon möchte man sie warnen, da bleibt sie abrupt stehen, dreht ab. Hat sie eine wichtige, ihr Leben verändernde Nachricht erhalten?"

Ein junges Paar tritt an den Eimer heran. Die Blicke der zwei wandern nach oben zur Tropfenquelle. Der Mann formt den Mund zu einem Pfeifen und wedelt mit den Fingern einer Hand, als ob er sich verbrannt hätte. Kabel, Elektrizität, Wasser? Nicht gut. Die Frau zuckt gelangweilt mit den Schultern und zieht ihn weiter. Werden sich die beiden demnächst trennen?

Vom Rolltreppenabgang drängt eine Gruppe Touristen aus Asien auf den Bahnsteig. Einer deutet auf den Eimer. Eine lebhafte Diskussion entspinnt sich. München ist eine reiche Stadt, aber warum sind ihre Metro-Stationen Tropfsteinhöhlen? Über dem Eimer hängt ein kleiner Kasten. "Da filmt bestimmt eine fiese Kamera von oben mit", murmelt eine Wartende vor sich hin. Womöglich hat sie recht und man findet sich demnächst im Haus der Kunst wieder, als Akteur in einem unglaublich ambitionierten Video, das Leute zeigt, wie sie doof in den Eimer stieren oder unelegant drübersegeln.

Der rote Eimer, dieses schäbige Stück Plastik zum Denkanstoßen, sammelt Geschichten wie Kondenswassertropfen. Also, bitte, stehen lassen!

© SZ vom 26.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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