Lebensgefühl:Vor dem Sommer sind alle gleich

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Am Ufer der Isar treffen sich alle - ein Paradies, mitten in der Stadt. (Foto: Robert Haas)

Ja, es gibt Arme und Reiche in dieser Stadt, die Gegensätze sind groß. Doch wenn es warm wird, verschwimmen sie zumindest ein bisschen. Eine Liebeserklärung an diese Jahreszeit.

Von Jennifer Lichnau

Es gibt eine Jahreszeit in meiner geliebten und manchmal auch verhassten Stadt, die versöhnlich stimmt. Die mich die dickbäuchigen und marken-bebrillten Hugo-Trinker im Tambosi am Odeons-platz anlächeln lässt. Der Sommer! Ach, der Münchner Sommer! München ist bunt. München ist vielfältig. Im Sommer, da kann ich es spüren, wenn ich an der Isar sitze, zwischen Reichenbach- und Wittelsbacherbrücke, an unserem wunderschönen städtischen Gebirgsbach. Er lockt sie alle an: weg von den Schreibtischen, weg aus der teuren Innenstadt, weg aus der Studentenwohnung. An den grünen Ufern mitten in der Stadt treffen sich alle wieder, mit einem Bier in der Hand. Abwertende Blicke gibt es hier nicht. Nicht im Sommer, nicht in München, nicht an der Isar.

Die Bierflasche wird zum Gleichstellungsmerkmal. Die Isar trägt mit ihrer Strömung lästige Gedanken hinfort. Die ganz hartnäckigen werden spätestens vom zweiten Bier vernichtet. Nach dem dritten stört mich eigentlich nichts mehr, nicht die hektische Musik von den Jugendlichen nebenan, die Hunde, die sich quer über mein Handtuch jagen, die gebräunten Menschen, die auf Decken mit Alu-Unterlage sitzen und bei Hugo aus der vorgemischten Käfer-Flasche über Immobilien-Anlagen sprechen.

Giorgio Cagnina, 24, Friseur, erstes Lehrjahr

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(Foto: Robert Haas)

"In Italien habe ich meinem Vater und meinem Bruder die Haare geschnitten. Dort, wo ich herkomme, machen das die Männer meistens selbst - dort gibt es keine Friseurausbildung wie in Deutschland. Ich verdiene 350 Euro. Davon kann ich meine Miete bezahlen. Ich wohne zum Glück recht günstig bei einer älteren Dame. Leider etwas außerhalb, aber das ist schon okay. Am Wochenende kellnere ich noch in einem Restaurant und in einer Bar. Das Geld, was am Ende übrig bleibt, spare ich für meinen Meister. Der Sonntag ist mein heiliger Tag, da schlafe ich. Das muss auch sein nach 38 Stunden in unserem eigenen Lehr-Salon und Berufsschule plus zwei Nebenjobs. Ich arbeite im Schnitt 52 Stunden pro Woche. Nebenbei versuche ich, mein Deutsch zu verbessern. Ich weiß, wofür ich das alles mache: meinen eigenen Salon in München."

Franziska Stadler, 20, Kauffrau für Versicherungen und Finanzen, zweites Lehrjahr

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(Foto: Florian Peljak)

"Für mich war immer klar, dass ich in München meine Ausbildung machen werde. Ich komme aus Obing im Chiemgau mit 4000 Einwohnern - da will man irgendwann raus. Nach dem Abi und einem Jahr als Au-pair in New York wollte ich eigentlich studieren. Meine Eltern meinten aber, ich solle vorher eine Ausbildung machen. Jetzt arbeite ich 38 Stunden in der Woche in der Versicherung. Dafür bekomme ich um die 825 Euro, davon zahle ich 450 Euro fürs WG-Zimmer. Aber ich komme klar, gehe sogar mal essen oder gönne mir hochwertige Kleidung. Manchmal frage ich mich, ob ich noch studieren sollte und wie es wohl ist, dieses Studentenleben. Einen Unterschied habe ich schon festgestellt und den finde ich nicht ganz fair: Ich habe das Gefühl, als Student bekommt man viele Ermäßigungen, die man als Azubi nicht bekommt. Etwa das Semesterticket, mit dem man im ganzen MVV-Bereich fahren kann. Wenn ich mir am Monatsanfang ein Ticket kaufen muss, tut das finanziell ganz schön weh."

Virginia Grimm, 22, Duales Studium Pflege, Ausbildung zur Gesundheits- und Kinderkrankenpflegerin

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(Foto: Catherina Hess)

"Ich bekomme etwa 880 Euro. Das ist für eine Ausbildung wirklich extrem gut. Nur danach gibt es nicht mehr viel Steigerung. Mir macht das nichts, denn ich mag Kinder sehr gerne. Ich will ihnen helfen und mich um sie kümmern. Statt fürs Schwesternwohnheim habe ich mich fürs teurere WG-Leben entschieden. Das ist ruhiger. Zum Glück übernehmen meine Eltern die Miete. Sonst könnte ich mir die Lebensmittel vom Markt wahrscheinlich nicht leisten. Ausgehen ist so auch mal drin, ohne dass ich mir am nächsten Morgen Gedanken machen muss, wovon ich den Rest der Woche leben soll."

Mittendrin steht Mama Afrika, die ihr Bier aus der mobilen Kühlbox verteilt. Und wenn die Pfandsammler schon einen erfolgreichen Streifzug hinter sich haben, stellen auch sie sich zu den anderen in die Isarfluten, strecken ihre Gesichter in die Sonne und genießen diesen Ort.

Wenn ich meinen Vater in Hamburg besuche, werde ich immer wieder gezwungen, mein München zu verteidigen. Denn am nordischen Stammtisch rollen sich vielen schon die Zehennägel auf, wenn es um München geht. Früher habe ich in solchen Situationen noch gesagt: München sei doch so gemütlich, eine Stadt mit Dorf-Charakter, oder ein Dorf mit Stadt-Charakter, das gibt es nur einmal, habe ich gesagt. Jetzt weiß ich auch, was ich das nächste Mal im hohen Norden sagen muss: Ich muss vom Münchner Sommer erzählen.

Erzählen, was er kann. Der Münchner Sommer, der die Unterschiede zwischen mir und den Tambosi-Gästen auszublenden vermag. Der Sommer, in dem nichts besser schmeckt, als eine kühle Halbe - diesen großen Luxus zum kleinen Preis, den sich alle im Münchner Sommer gemeinsam gönnen. Gemeinsam an der Isar, gemeinsam am Schwabinger Bach, gemeinsam im Englischen Garten. Student oder erfolgreicher Unternehmer? Egal. Der Sommer macht uns zu Nachbarn. Handtuch-Nachbarn, Nachbarn im Geiste, Gleichgesinnte im Großstadt-Paradies.

Jetzt ist es wieder soweit: Ich sitze mittendrin, mit meinen Freunden. Drei Halbe dabei, die Isar vor der Nase, die Sonne im Gesicht. Ich blicke mich um. Neben uns hat sich eine Rentner-Truppe eingerichtet mit Liegestühlen, Sonnenschirm, einem kleinen Tisch zum Schafkopfen, mit einem Bierkasten in Reichweite, gekühlt. Ich lächle. Meine Freundin folgt meinem Blick und sagt: "Die sind jeden Tag da, den ganzen Sommer lang, so wie wir." Sie grinst breit. "So wie wir", sage ich. Das sind Momente, die kennt kein Hamburger, kein Berliner.

© SZ vom 09.07.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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