Unterhaching:Schulalltag lindert das Trauma

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Aynur Gündüz koordiniert die Projekte der Unterhachinger Stiftung "Kids to life" in der Türkei und Syrien. Sie unterstützt Familien, die wegen des Krieges alles verloren haben mit dem Nötigsten - und möglichst vielen Kindern den Unterricht mit Gleichaltrigen zu ermöglichen

Von Gudrun Passarge, Unterhaching

Am Schlimmsten findet es Aynur Gündüz, wenn Kinder in der Türkei sie um Brot anbetteln: "Normalerweise fragen sie doch nach Schokolade oder Bonbons. Sie fragen aber nach Brot, das heißt, dass sie am Verhungern sind." Die Marketingfrau arbeitet für die Stiftung "Kids to life" aus Unterhaching und koordiniert die internationalen Hilfsprojekte der Stiftung für Kinder in der Türkei und Syrien. In der Regel verteilt sie im Grenzgebiet Pakete mit Nahrungsmitteln und warmer Kleidung, aber sie hat auch schon ein Feuerwehrauto und einen Krankenwagen ins Kriegsgebiet vermittelt. Zusätzlich unterstützt die Stiftung Schulen für syrische Flüchtlingskinder in der Türkei.

Gündüz hat viele Bilder dabei. Sie zeigen traurige Kinder in erschreckender Umgebung. Zerstörte Häuser, Ruinen, Schlamm, zusammengebastelte Zelte, Öfen in alten Tonnen. Was bei allen Fotos sofort auffällt ist der Blick dieser Kinder, ein Blick in den Abgrund, ohne Hoffnung, ohne Perspektive. Und dann gibt es da die Fotos von Kindern, die eine Schule besuchen. "Diese Kinder haben dann plötzlich eine ganz andere Ausstrahlung", hat Gündüz beobachtet. Deswegen verwundert es auch nicht, dass es ihr Ziel ist, so vielen Kindern wie möglich wieder einen Schulbesuch zu ermöglichen. "Mehr Zukunft für Kinder", lautet das Motto der Stiftung, genau darum geht es auch im Krisengebiet. Der Schulbesuch könne helfen, die Traumata zu überwinden, "denn jedes dieser Kinder hat eine schreckliche Geschichte".

Die Stiftung "Kids to life" leistet Hilfe im Kriegsgebiet und unterstützt Flüchtlingskinder in der Türkei. (Foto: Kids to Life)

Wie das kleine Mädchen, das ihr eine engagierte Schulleiterin vorstellte. "Sie war fast apathisch." Von der Rektorin erfuhr sie auch, warum. Die Familie kam aus Syrien. Die beiden Brüder des Mädchens hatten auf dem Balkon gespielt, als einer der beiden von einer tödlichen Kugel getroffen wurde. Die Familie floh. Der überlebende Bruder hatte aufgehört zu sprechen. Erst nach einem halben Jahr in der Schule habe er wieder angefangen zu reden. Dann blieb sein Stuhl in der Klasse plötzlich leer. Die Schulleiterin forschte nach und fand etwas sehr Trauriges heraus. Der Junge litt an einem Hirntumor. Die Familie lieh sich Geld und fuhr mit dem Sohn nach Istanbul in ein Krankenhaus. Doch dort wurden sie nicht einmal angeschaut. Sie übernachteten vor dem Krankenhaus, doch auch am zweiten Tag wurden sie nicht aufgenommen. Gündüz rührte das Schicksal der Familie, die sie gleich besuchte. Sie schickte die Untersuchungsergebnisse nach Deutschland und bekam die Nachricht, dass dem Jungen nicht mehr zu helfen sei, der Tumor war zu weit fortgeschritten. "Drei Monate später war er tot", erzählt die 37-Jährige. Dieses Schicksal habe sie berührt, vor allem tat ihr der Vater leid. Er habe sich Vorwürfe gemacht, dass er es nicht geschafft hat, seinem Sohn zu helfen. "Es war eine komplett gebrochene Familie."

Gündüz reist seit gut drei Jahren in das Krisengebiet. Stets allein. Sie weiß, dass es nicht ungefährlich ist, aber Angst hat sie nicht. Die Frau mit den kurdischen Wurzeln hat sich inzwischen ein Netz dort aufgebaut. Von dem Spendengeld der Stiftung kauft sie in der Türkei Grundnahrungsmittel ein, weil sie dort viel billiger sind als hier, außerdem seien die Einfuhrbestimmungen der Türkei inzwischen sehr streng. Gündüz arbeitet eng mit verschiedenen Hilfsorganisationen in Syrien zusammen und mit den Behörden. Und sie hat Sanabl Marandi kennengelernt, eine rührige Syrerin, die Schulen in der Türkei für die syrischen Flüchtlinge aufbaut. Sie führt Listen, sie weiß, welche Kinder nur noch einen Elternteil haben und welche Familien besondere Not leiden. "Zudem habe ich inzwischen selbst einen guten Überblick", sagt Gündüz. Sie fährt meist nach Gaziantep und leitet ihre Aktionen von dort aus. Dabei unterstützt sie weniger die Menschen in den Lagern, "denn die sind eigentlich versorgt", oder anders gesagt, diesen Menschen gehe es jedenfalls besser, als denen, die versuchten, sich auf eigene Faust durchzuschlagen. Sie erzählt von Kriegswitwen mit sieben oder acht Kindern, die in der Türkei in ehemaligen Läden ohne Toiletten wohnen, für die Wucherpreise verlangt werden. Die Kinder, acht bis zehn Jahre alt, arbeiteten in Fabriken, "damit sie die Mieten bezahlen können".

Aynur Gündüz in einer Schule für syrische Kinder in der Nähe von Istanbul. (Foto: Kids to Life)

Es ist ein düsteres Bild, das Aynur Gündüz da malt. "Auch wenn der Krieg morgen aufhören würde - was ich nicht glaube - die nächsten 30 Jahre würde er noch beeinflussen", sagt sie, allein dadurch, dass viele Kinder jetzt keine Schule besuchten. Dass sie Dinge gesehen haben, die niemand, erst recht kein Kind gesehen haben sollte. Aber Aynur Gündüz glaubt daran, Dinge ändern zu können. Es ist ihr ein persönliches Anliegen, zumal sie oft genug erlebt hat, wie sehr der Schulbesuch den Kindern hilft. Manche Schulen besucht sie immer wieder. "Die Kinder erkennen mich sofort wieder. Und wenn ich sehe, wie ihre Augen wieder zu leuchten anfangen, das gibt mir sehr viel", sagt Gündüz. Es zeige ihr, dass man etwas bewirken könne, selbst bei Kindern, deren Blick einem zu verstehen gebe, dass sie mit dem Leben abgeschlossen haben: "Es ist nicht so, dass es ein Tropfen auf dem heißen Stein ist, man kann den Kindern eine Zukunftsperspektive geben."

Die nächste Lieferung an Hilfspaketen will sie Ende Januar organisieren. Dann benötigten die Menschen dort dringend warme Decken und Kleidung. Wohin die Hilfe genau gehe, das hängt von den Umständen ab. Bereits jetzt arbeitet Gündüz mit Hilfsorganisationen, die ganze Dörfer unterirdisch durch Tunnel versorgten, "weil die Dörfer umzingelt sind".

Aber auch für die, die in die Türkei fliehen konnten, werde die Situation immer schlimmer. Vielleicht, so überlegt Gündüz, weil die Leute am Anfang von dem leben konnten, was sie mitgenommen hatten. Doch mittlerweile sei alles aufgebraucht. Dafür leben diese Menschen jetzt in einer Umgebung, die ihnen nicht immer wohlgesonnen sei und müssten sich mit Wuchermieten herumschlagen. "Die Männer arbeiten oft für Hungerlöhne, die bettelnden Kinder werden immer mehr." Die Kriegsflüchtlinge seien es leid, sie möchten einfach nur heim. "Ich habe noch keinen Syrer getroffen, der sagt, er möchte nach Europa", erzählt Gündüz. "Sie sagen alle, sie wollen nach Hause."

Die Stiftung "Kids to life" nimmt Geldspenden unter dem Stichwort Syrien an.

© SZ vom 17.01.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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