Pullach:Surush erzählt von daheim

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Surush (links) hat sich das Trommeln selbst beigebracht. In Pullach hat er Freunde gefunden - und ein interessiertes Publikum. (Foto: Angelika Bardehle)

Der 17-jährige Afghane lebt in der Burg Schwaneck und findet alles in Deutschland besser - außer dem Essen

Von Melanie Artinger, Pullach

Aufwachsen in Afghanistan - was bedeutet das? Viele der Pullacher Jugendlichen, die zu dem Vortrag in der Reihe der "Heimatgeschichten" gekommen sind, können sich das nur schwer vorstellen. Mit Bildern von landestypischen Gerichten und Schulklassen zeigte der siebzehnjährige Surush in der Charlotte-Dessecker-Bücherei Ausschnitte aus dem Leben in seiner Heimat. Er wuchs in Baghlan, einer Provinz im Norden Afghanistans, auf. Seit einem Jahr leben sein Cousin und er gemeinsam mit anderen unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen auf der Burg Schwaneck.

In Zusammenhang mit dem Besuch einer Berufsintegrationsklasse hat Surush ein vierwöchiges Praktikum in der Pullacher Bücherei absolviert. In dieser Zeit übernahm er von der Katalogisierung bis zum E-Book alle Aufgaben des Bibliothekswesens, beschreibt Bibliotheksleiterin Eveline Petraschka seine Aufgaben. Am besten gefallen habe ihm dabei, dass er so viele Menschen kennen gelernt habe, sagt Surush. Auch in Ausleihe und Rückgabe der Medien war der Jugendliche involviert. Daneben bereitete er einen Vortrag über die Jugend in seinem Heimatland vor.

Eine typische Familie in Afghanistan beschreibt Surush so: In einer Zwei-Zimmerwohnung mit Küche und Bad leben acht Menschen. In einem der Zimmer schlafen alle Familienmitglieder auf dem Teppich. Betten und Tische gibt es nicht. Das andere Zimmer ist meist verschlossen, es ist nur für Gäste vorgesehen, die oft unangekündigt vorbeikommen. Es sind nicht nur Verwandte und Bekannte, die in dieses besonders schön eingerichtete Gästezimmer eintreten. Trifft man einen Soldaten auf der Straße, wird auch dieser zum Essen eingeladen. Denn Gastfreundschaft wird großgeschrieben in Afghanistan. Dann wird viel gekocht, meist Reis- und Fleischgerichte. Zwei bis drei Mal in der Woche bekommt eine Familie Besuch.

Die Kinder gehen vier Stunden am Tag in die Schule, erzählt Surush weiter. Vorausgesetzt, sie dürfen. Am Nachmittag müssen viele Kinder schon ab dem Alter von neun Jahren arbeiten, oft sechs bis acht Stunden am Tag. Die Mädchen knüpfen Teppiche, viele Jungen arbeiten bei einem Automechaniker. Surush selbst konnte nur fünf Jahre lang eine Schule besuchen. Dort lernte er unter anderem Englisch, Arabisch und Kalligrafie. Nachdem sein Vater verschwunden war, arbeitete er in einer Fahrradwerkstatt und in einer Schreinerei, um seine Mutter und den achtjährigen Bruder zu unterstützen. Es sei schwer, in seinem Heimatort eine Arbeitsstelle zu finden, sagt er. Seine Verantwortung als ältester Sohn sei sehr groß, er habe die Aufgaben des Familienoberhaupts übernommen. Was seinem Vater zugestoßen sei, wisse niemand, sagt Surush.

In ihrer Freizeit spielten die Jungs Fußball oder ließen Drachen steigen. Doch niemals könnten die Jugendlichen alleine auf die Straße, die Gefahr sei zu groß, sagt er, dass sie verschleppt und an die Taliban als Soldaten verkauft würden. Die Mädchen dürften die Wohnung sowieso nicht alleine verlassen. Dennoch lernten Mädchen in Vereinen auch oft Sportarten wie Taekwondo, Boxen oder Karate, um sich besser selbst verteidigen zu können. Die Realität habe wenig mit dem zu tun, wie die Lage in Afghanistan in den Medien dargestellt werde, sagt Surush. Er verstehe nicht, warum die Regierung Afghanen abschieben wolle. In seiner Heimatstadt hätten Taliban die Stromversorgung gekappt. Das heiße: auch kein Wasser, denn die Pumpen am Brunnen würden elektrisch betrieben.

Den Vortrag zu halten, die Erinnerungen an die Situation in seinem Heimatland, haben Surush ein wenig traurig gestimmt. Aber dass so viele Pullacher gekommen seien, um ihm zuzuhören, das finde er großartig, sagt er. Und so beantwortet er auch viele Fragen der überwiegend jugendlichen Zuhörer. Ob es etwas gäbe, das in Afghanistan nicht vielleicht doch besser ist? Naja, das Essen vielleicht. Im Anschluss gab es ein Buffet mit afghanischen Gerichten.

© SZ vom 05.12.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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