Pullach:Irrfahrt durchs Isartal

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Mit dem Film "Endstation Seeshaupt" erinnert Pullach zum 70. Jahrestag des Kriegsendes an einen Transport, der KZ-Häftlinge aus Mühldorf in die Alpen bringen sollte. Einer der Güterzüge hielt damals auch in Großhesselohe

Von Konstantin Kaip, Pullach

Am Vormittag des 29. April 1945, es war ein Sonntag, hielt ein Güterzug voller Menschen auf der Trasse der Isartalbahn am Bahnhof in Großhesselohe. An diesem Tag hat es geregnet, das sagt jedenfalls der Pullacher Gemeindearchivar Erwin Deprosse. Er weiß das von einem guten Freund, der den Zug damals am Bahnhof gesehen hat. Der könne sich deshalb daran erinnern, weil die Insassen, die in den Güterwaggons eingepfercht waren, ihr Geschirr in den Regen hielten, um etwas Trinkwasser aufzufangen.

Der Zug, der im Isartal Zwischenstation machte, ohne dass sich die Türen der Waggons öffneten, war einer der sogenannten Todeszüge, die zirka 4000 KZ-Häftlinge aus dem Außenlager Mühldorf-Mettenheim auf einer tagelangen Irrfahrt Richtung Alpen durch Bayern transportierten. Auch der inzwischen verstorbene Gemeinderat aus Großhesselohe Bernd Pröller hat die Wagen als Kind am Bahnhof gesehen, sagt Pullachs Bürgermeisterin Susanna Tausendfreund. Er habe ihr davon "vor vielen Jahren erzählt". Zu einer Zeit als sich "noch kaum jemand mit den damaligen Ereignissen auseinandersetzen wollte".

Geschichtsstunde mit Film: Walter Steffen, Paul Müller, Susanna Tausendfreund und Peter Habit vom Geschichtsforum (von links). (Foto: Claus Schunk)

Als Bürgermeisterin will sich Tausendfreund mit der Vergangenheit vor der eigenen Haustür beschäftigen. Und deshalb hat sie im Namen der Gemeinde am Dienstagabend im Pullacher Bürgerhaus einen Film gezeigt, der diesbezüglich lange Versäumtes nachholt: Die Dokumentation "Endstation Seeshaupt" berichtet von der Irrfahrt der meist jüdischen Häftlinge, die am 30. April 1945 in Tutzing und Seeshaupt endete. Erzählt wird sie in weiten Teilen von Louis Sneh, der als 16-Jähriger aus seinem Heimatdorf bei Szeged in Ungarn deportiert wurde und nach Stationen in Auschwitz und Dachau schließlich nach Mühldorf-Mettenheim verfrachtet wurde, wo er mit Tausenden anderen Häftlingen am Bau einer unterirdischen Flugzeugfabrik arbeiten musste. Sneh, der nach seiner Befreiung nach Kalifornien auswanderte, kam seit 1963 regelmäßig zum Jahrestag seiner "zweiten Geburt" an den Ort seiner Befreiung. Hunderte Dias hat er vom Bahnhof Seeshaupt gemacht. Einheimische wurden erst 1994 durch Zufall auf ihn aufmerksam, als es im Ort gerade eine Diskussion um ein Mahnmal gab, das heute an den Todeszug, seine Opfer und die Befreiung der Überlebenden erinnert.

Mit der Dokumentation von 2010 ist Filmemacher Walter Steffen ein wichtiges Zeugnis gelungen, von Ereignissen, die das unvorstellbare Leid, das vorher stets hinter Zäunen in der Ferne stattgefunden hatte, in oberbayerische Gemeinden brachte, Ereignisse die gerade deshalb dort lange verschwiegen wurden. Der Film bleibt nah an seinem Protagonisten, der "nach all den Gräueln, die er erlebt hat, ohne Groll geblieben ist", wie Steffen in Pullach voller Bewunderung feststellte. Im Film fährt Sneh, ein besonnener älterer Herr mit akkuratem Oberlippenbart im Trenchcoat, in der Regionalbahn noch einmal die Strecke ab, für die er damals, im Güterwaggon eingepfercht, fünf Tage gebraucht hat: Poing, München, dann durchs Isartal bis Beuerberg und wieder zurück bis Seeshaupt. "Das Bild ist eingraviert in meinen Gedanken", sagt Sneh über den Seeshaupter Bahnhof. An sein Gefühl während der Zugfahrt damals könne er sich aber nicht genau erinnern. Die einzige Konstante in einem diffusen Gemisch aus Verzweiflung, Angst, Hunger, Durst und Übermüdung war der "Drang zu leben", sagt er, während die Landschaft an ihm vorbeirauscht.

Geschichtsstunde mit Film: Walter Steffen, Paul Müller, Susanna Tausendfreund und Peter Habit vom Geschichtsforum (von links). (Foto: Claus Schunk)

Neben Sneh kommt auch Max Mannheimer zu Wort, der mit Typhus und Fieber im anderen am Münchner Südbahnhof abgekoppelten Zug erst nach Penzberg, dann nach Bernried verfrachtet und schließlich in Tutzing befreit wurde. Und Steffen lässt auch Bürger der betroffenen Gemeinden von ihren Erlebnissen erzählen. Von "ausgehungerten Gestalten, die sich um Brot gebalgt haben", berichtet etwa ein Poinger. Und ein Tutzinger beschreibt den Zug als "richtig unheimlich. Dass es etwas Böses war, hat man gefühlt, selbst als Kind." Neben den Ereignissen vor 70 Jahren, die er in einen Kontext mit der gescheiterten Revolte der "Freiheitsaktion Bayern", der Penzberger Mordnacht und dem Todesmarsch der Dachauer Häftlinge setzt, dokumentiert der Film auch den Kampf um die Erinnerung, den Bürger Jahre später in Poing, Bernried oder Seeshaupt geführt haben, um dort Mahnmale aufzustellen. Ein solches könnte sich Pullachs Bürgermeisterin Susanna Tausendfreund auch in Großhesselohe vorstellen. Denkbar sei ein zweites Exemplar des Poinger Denkmals von Karl Orth. "Es gibt vielfältige Ansätze, die Geschichte der NS-Zeit als Heimatgeschichte zu begreifen", sagte sie.

Bei der anschließenden Diskussion sprach auch der Pullacher Paul Müller, Enkel eines der Zugführer, die im April 1945 die Mühldorfer Häftlingen transportierten. Müller, der die Eisenbahnhistorie erforscht hat, geht davon aus, dass damals insgesamt sechs Züge mit Häftlingen von München nach Süden gefahren sind. Sein Großvater, sagte er, sei bis Bichl gekommen. Über seine Gefühle in der Lok des Todeszuges habe er nie gesprochen. "Er war kein Nazi. Als Eisenbahner hat er das ausgeführt, was man ihm vorgeschrieben hat."

Es gehe ihm nicht so sehr um die Schuld der Väter, sagte Steffen, sondern darum, "welche Verantwortung wir heute übernehmen müssen". In Deutschland, wo die "Ausgrenzungskultur" der NS-Zeit "noch wach" sei, brauche es eine Willkommenskultur. Für seinen nächsten Film will Steffen mit den "Clowns ohne Grenzen" Erstaufnahmelager für Flüchtlinge besuchen.

© SZ vom 29.04.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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