Polizei:Der Anspruch, alles aufzuklären

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Seit 1960 konnten bei 18 vollendeten und zehn versuchten Morden im Landkreis die Täter nicht gefunden werden. Doch eine Arbeitsgruppe Altfälle versucht es immer aufs Neue und hat oft Jahrzehnte nach der Tat Erfolg

interview Von Christina Hertel

Es gibt Mordfälle, die können nie gelöst werden, auch nach Jahrzehnten nicht. Die Mordkommission München wollte wissen, wie viele dieser Fälle es in der Stadt und dem Landkreis München gibt und wühlte in den Akten. Herausgekommen ist: Seit 1960 wurden insgesamt 247 Morde und versuchte Morde nicht geklärt. Davon passierten 18 Morde und zehn versuchte Morden im Landkreis München. Bei manchen Fällen wird immer noch ermittelt, bei anderen gibt es kaum Chancen, dass sie jemals geklärt werden. Kriminaloberrat Markus Kraus erklärt, woran das liegt und was es mit Ermittlern macht, wenn sie manche Taten nie lösen können.

SZ: Kommt es an Feiertagen häufiger zu Mord und Totschlag, weil man seiner Familie nicht entkommen kann?

Markus Kraus: Nein, ich glaube nicht. Ich arbeite seit sechseinhalb Jahren für die Mordkommission und habe in der Zeit noch nie ein "blutiges" Weihnachten erlebt.

Wie hoch ist denn die Wahrscheinlichkeit, dass ein Fall geklärt wird?

Ich bin kein Fan solcher Statistiken. Es nützt den Angehörigen ja nichts, wenn ich ihnen sage: Statistisch gesehen ist es so und so wahrscheinlich, dass der Fall geklärt wird. Grundsätzlich ist es aber so, dass wir über Jahre hinweg eine Aufklärungsquote von nahezu 100 Prozent hatten. In den vergangenen zehn Jahren wurde im Landkreis München nur der Fall Radmiller nicht geklärt. In den 70er und 80er Jahren sind aber auch mehr als doppelt so viele versuchte und vollendete Tötungsdelikte pro Jahr passiert. Heute sind es etwa zwischen 30 - 40 jährlich, damals waren es etwa 90.

Warum ist das so?

Das ist schwer zu sagen, keiner hat dafür eine Erklärung. Aber es ist ein bundesweiter Trend. Heute gibt es auch mehr Mordversuche als tatsächliche Morde. Aber das liegt daran, dass die Medizin große Fortschritte gemacht hat.

Gibt es von den ungelösten Morden Fälle im Landkreis, die die Mordkommission bis heute beschäftigen?

Die gibt es natürlich. Der Fall Kristin Harder, zum Beispiel. Sie verschwand 1991, und erst ein Jahr später fand man ein abgetrenntes Bein von ihr im Wald von Neubiberg und einen Arm in einer Wasserkraftanlage. Es ist aber auch so: Bevor wir einen Fall aus den 70er Jahren bearbeiten, müssen wir uns um die aktuellen kümmern. Das hat einfach Vorrang. Die Altfallbearbeitung kann nur gemacht werden, wenn gerade jemand Luft hat oder wenn es konkrete Ermittlungsansätze gibt. Wir sind 27 Beamte und haben ohnehin schon etwa 12 000 Überstunden angesammelt. Wenn jemand einen Altfall neu übernimmt, dauert es lange, bis sich derjenige eingelesen hat, und wenn dann etwas Aktuelles passiert, ist er wieder raus. Es gibt auch einfach Fälle, bei denen vermutlich auch in Zukunft keine Klärung mehr erfolgen wird.

Nach dem Mord an der 73jährigen Neuperlacherin Elisabeth Z. im Jahr 2009 in Kaltenbrunn durchsuchen Polizeibeamte ein Waldstück auf Spuren. (Foto: Catherina Hess)

Bei welchen Fällen aus dem Landkreis ist das so?

Unser ältester ungeklärter Fall stammt aus dem Jahr 1966. In Lochham wurde ein Mann tot aufgefunden. Wir haben die Asservate jetzt noch einmal überprüft. Es gibt einfach nichts, was wir noch tun könnten. Es natürlich auch schwierig, heute noch Zeugen zu so einem Fall zu finden. Der Täter ist jetzt ungefähr 50 Jahre älter und sieht wahrscheinlich ganz anders aus, vielleicht lebt er gar nicht mehr. Trotzdem sollte man natürlich niemals nie sagen. Vielleicht will der Täter eines Tages sein Gewissen erleichtern oder Mitwisser packen aus.

Wie schlimm ist es für Sie, wenn Sie einen Fall niemals lösen können?

Man kann schon leicht das Gefühl haben, zu wenig getan zu haben. Aber ich habe im Laufe der Zeit gelernt, damit umzugehen. Kollegen aus anderen Dienststellen sagen manchmal bei Sokos: Mei ist ja Wahnsinn, was bei euch für ein Druck herrscht. Wir merken das aber gar nicht so, wir machen einfach unsere Arbeit. Aber es gibt eben immer den Anspruch, alles aufzuklären. Das sind wir den Angehörigen und uns schuldig.

Hat es negative Folgen für die Angehörigen, wenn ein Fall nie aufgeklärt wird?

Wir wissen, dass die Angehörigen die Trauerarbeit erst richtig beginnen und dann auch irgendwann abschließen können, wenn auch das Verfahren beendet ist. Ansonsten haben sie immer im Hinterkopf, dass sie vielleicht noch einmal vor Gericht aussagen müssen. Deshalb ist es wichtig, dass die Angehörigen wissen, welche Person dafür verantwortlich ist, und dass es ein Verfahren gibt.

Kriminaloberrat Markus Kraus ist seit sechseinhalb Jahren bei der Mordkommission. (Foto: Catherina Hess)

Warum kommt es denn manchmal nie zu einem solchen Verfahren, weil man den Täter nicht findet?

Die Erfolgsquote hängt davon ab, ob es eine Beziehung entweder zwischen Täter und Opfer oder zwischen Täter und Tatort gibt. Wenn nicht, wird es schwierig. Es kann auch zum Problem werden, wenn zu viel Zeit zwischen dem Mord und dem Auffinden der Leiche vergeht. In solchen Fällen kann dann auch die Dauer der Vorratsdatenspeicherung entscheidend sein. Im Fall Radmiller zum Beispiel wurde der Mann einfach nur vermisst. Es gab keine Anhaltspunkte auf ein Gewaltverbrechen, bis seine Leiche zwei Monate später gefunden wurde - an einem Waldparkplatz an der B471 bei Ismaning, einem Ort, wo es sehr anonym zuging.

Inwiefern?

Es war ein Treffpunkt für homosexuelle Männer, die sich dort aber nicht verabredet haben, sondern quasi durch Blickkontakt klargemacht haben, was sie wollen und was nicht. Es muss also nicht sein, dass das Opfer den Täter wirklich kannte, es könnte eine Zufallsbekanntschaft gewesen sein. Möglicherweise haben sich manche Zeugen auch nie gemeldet, weil sie ein Doppelleben führen.

Bewegen Sie Fälle, die Sie nicht beenden können, mehr als andere?

Was mich persönlich beschäftigt, ist immer ganz unterschiedlich. Das muss nichts mit der Aufklärung zu tun haben. Über einen Fall aus dem Jahr 2010 habe ich lange nachgedacht, und da war es klar, wer der Mörder war. In Unterföhring brachte ein psychisch kranker Mann seine Mutter um. Als er nach Jahren aus der Psychiatrie entlassen wurde, tötete er auch seinen Vater. Der Bruder des Täters hielt aber danach trotzdem noch zu ihm. Er hat das immer so gesehen, dass sein Bruder eben krank ist.

Haben Sie manchmal Mitleid oder Verständnis für den Mörder?

Es gibt schon auch erklärliche Motive. Wenn zum Beispiel Demütigung im Spiel ist und das Opfer, sagen wir mal, einen gewissen Beitrag geleistet hat. Verständlich oder akzeptierbar ist ein Mord für mich trotzdem nie. Und es ist nie so, dass wir finden, dass das Opfer selber schuld ist.

Glauben Sie, dadurch dass jetzt alle ungelösten Mordfälle zusammengetragen wurden, kommt noch einmal etwas Neues raus?

Wir haben immer wieder Klärungen, manchmal auch erst nach 20 Jahren. 2004 wurde bei der Spurensicherung eine Arbeitsgruppe Altfälle eingerichtet. Die haben sich die Asservate der offenen Fälle angeschaut und überprüft, was man nach neuen Methoden der Kriminaltechnik machen kann. Angefangen von DNA, hin zu Sichern von Fingerspuren, die man früher vielleicht nicht sichern konnte. Und darüber wurden einige Fälle geklärt, etwa ein Sexualmord, der vor 20 Jahren geschah.

© SZ vom 31.12.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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