Ottobrunn:Sinnliches Kratzen

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Die Illustratorin Line Hoven ist eine Meisterin in der seltenen Kunst der Schabkarton-Technik. Ihre Werke-Sammlung "Wer will mich?" lässt den Betrachter in Abgründe des Lebens schauen, doch stets mit einem liebevollen Blick

Von Franziska Gerlach, Ottobrunn

Mit einer leichten Wölbung geht die Taille in die Hüfte über. Die schöne Frau blickt ihrem Arm hinterher, ganz nackt ist sie, auf ihrem Venushügel kräuselt sich dunkles Haar. Und wie sie so dasitzt, den Kopf zur Seite geneigt, die Lider halb geschlossen, könnte sie auch einer erotischen Schwarz-Weiß-Fotografie entstammen. Doch den Auslöser hat hier niemand gedrückt, so viel ist klar, und zu recht stellt der Illustrator und Maler Quint Buchholz in seiner Eröffnungsrede etwas fest, das die Gäste der Vernissage am Mittwoch in der Galerie "Treffpunkt Kunst" den ganzen Abend lang beschäftigen soll. "Ich finde es unglaublich, dass man solche sinnlichen und weichen Linien herauskratzen kann."

Line Hoven aber hat gekratzt, die 38 Jahre alte Comiczeichnerin und Illustratorin hat sich auf die ausgesprochen seltene Schabkarton-Technik spezialisiert. Die gebürtige Bonnerin lebt in Hamburg. Nach einer zweijährigen Assistenz als Kostüm- und Bühnenbildnerin studiert sie Visuelle Kommunikation an der Kunstschule in Kassel und der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Hamburg, wo sie sich mit ihrer Diplomarbeit und zugleich ersten Veröffentlichung "Liebe schaut weg" - einer Familiengeschichte - vor acht Jahren an die Spitze der deutschen Comiczeichner kratzt. 2011 entsteht gemeinsam mit dem Schriftsteller und Journalisten Jochen Schmidt "Dudenbrooks". Zwei Jahre später erscheint unter dem Titel "Schmythologie" ein weiteres Gemeinschaftsprojekt der beiden, das augenzwinkernd ans Griechische angelehnte Fantasiebegriffe etymologisch erklärt. Für das Programmheft der Münchner Staatsoper gestaltet Hoven 2014 zwölf vorgegebene Begriffe - zum Beispiel "Paris". Doch wo andere sich auf die Schulter klopfen würden, da erklärt sie lieber, hin und her überlegt zu haben, ob sie die französische Hauptstadt mit einem Baguette oder einem Bett darstellen soll.

"Wer will mich?" versammelt mehr als 50 Arbeiten von Line Hoven. Der Ausstellungstitel ist inspiriert von einer Fernsehsendung über Tiere. (Foto: Claus Schunk)

Unter dem Titel "Wer will mich?" - zugleich der Name ihrer von einer österreichischen Fernsehsendung über Tiere inspirierte Serie - zeigt der Kunstverein Ottobrunn bis zum 24. Oktober eine Auswahl an alten, insbesondere aber neuen Arbeiten: 47 Originale und fünf Drucke. Aus einigen Metern Distanz verortet man die Schabkarton-Technik irgendwo zwischen einem Fotonegativ und Holzschnitt. Und wenn dabei de facto nur eine schwarze Schicht von weißem Karton gekratzt wird, so entfaltet sich bei diesem Verfahren doch eine Fülle an Grautönen. Die Motive lassen dabei eine Detailversessenheit vermuten, die beinahe unheimlich wirkt. Die Zornesfalte eines Säuglings im Arm seiner Mutter, die Locken einer Dauerwellen-Kundin beim Friseur, die Rüschen eines Kleides.

Die Schabkarton-Technik erfordert zweifelsohne eine gewisse Ernsthaftigkeit, eine ruhiges, überlegtes Wesen, Ausdauer und Geduld. Und wer der mit diversen Preisen ausgezeichneten Künstlerin dabei zusieht, wie sie ihr Mäppchen aufrollt und den Gästen ihr kleines Messer zeigt oder ihnen Tiere neben die Signatur zeichnet, der versteht, dass sie über diese Qualitäten verfügt. Etwa 30 Stunden dauert es, bis ein Bild von 14 auf 21 Zentimetern fertig ist. Ob das nicht anstrengend sei?, fragt ein älterer Herr. Hoven winkt ab. "Das macht einfach glücklich, einen Haufen Heu zu kratzen", sagt sie, für sie habe das etwas Meditatives. Er nickt, versteht offenbar.

Die gebürtige Bonnerin Line Hoven hat sich auch als Comiczeichnerin einen Namen gemacht. (Foto: Claus Schunk)

In ihren Bildern entwickelt Hoven oft groteske Welten, und die Botschaften, die sie darin verankert, sind so klug wie subtil. Die Künstlerin verstehe es, auf kleinem Format große Geschichten über das Leben zu erzählen, hatte Buchholz eingangs gesagt, über Liebe, Gewalt, Sehnsucht und auch den Tod. "Aber selbst wenn man in Abgründe blickt, ist immer auch ein liebevoller Blick dabei, ein verschmitzter." Und es gehört in der Tat einiges Einfühlungsvermögen dazu, die viel beschriebenen feinen Antennen, um eine Katze mit einem süffisanten Gesichtsausdruck auszustatten. Dann wiederum überrascht Hoven mit Humor. In "Schmythologie" übersetzt sie "Dorophagie", den freilich von Jochen Schmidt nur erfundenen Zwang zum Verspeisen von Geschenken, mit einem Mann, der einen Hüpfball verschluckt hat ins Bild.

Alte Fotos und Bücher inspirieren die Künstlerin, benennen will sie diese aber nicht. Es seien zu viele, sie lese so gern. Außerdem sei sie ein großer Fan des Regisseurs und Drehbuchautors Wes Anderson. Welchen Film des US-Amerikaners sie am liebsten mag? Ein kurze Pause entsteht, Hoven denkt nach, ehe sie sagt: "Die Tiefseetaucher". Und man muss seinerseits ein wenig an der Oberfläche kratzen, um das reiche Innenleben jener Frau zu erahnen, die so herzlich mit den Ottobrunnern umgeht. Doch wer Hoven ausschließlich mit einem analytischen Blick begegnet und alles sehen will, der wird den hintersinnigen Witz und die Tiefe, die Geschichten und Gedanken, die sich in ihren Bildern auftun, kaum fassen können. Und so bleibt letztlich nur eines, wenn man den Zauber ihrer Arbeit spüren möchte: loslassen.

"Wer will mich?" ist bis zum 24. Oktober mittwochs bis freitags von 15 bis 18 Uhr und am Samstag von 10 bis 13 Uhr in der Galerie Treffpunkt Kunst, Rathausstraße 5, Ottobrunn, zu sehen.

© SZ vom 25.09.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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