Mittagsbetreuung:"Wir lernen hier gemeinsam das Leben"

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Die Nachbarschaftshilfe betreibt die Mittagsbetreuung an den Grundschulen West und Ost. Die Erzieherinnen arbeiten ohne Zwang und spüren, wie die Kinder unter wachsendem Leistungsdruck leiden

Von Gudrun Passarge, Garching

Auffallend ist vor allem die Ruhe. Ein paar Kinder sitzen in der Bauecke und spielen miteinander, auf dem Pausenhof der Grundschule Ost tollen zwei Eichhörnchen herum. Noch sind nicht alle Kinder der Mittagsbetreuung da, aber das Buffet mit Obst und Gemüse ist schon angerichtet, der Basteltisch vorbereitet. Und wo können die Kinder Hausaufgaben machen? Nirgends, sagt die Leiterin, Angelika Kraus. "Wir lernen hier gemeinsam das Leben." Und was ihr ganz wichtig ist: "Bei uns wird kein Kind gezwungen, etwas zu tun."

Die Nachbarschaftshilfe hat seit dem Jahr 2000 die Mittagsbetreuung in den Grundschulen West und Ost übernommen. Angelika Kraus Erzieherin ist von Anfang an dabei, genau wie ihre Kollegin Marianne Ehrecke. Jetzt sitzen beide im Büro von Kraus und erzählen vom Beginn und ihrem Tagesablauf. Bald schon waren es so viele Anmeldungen, dass auf jeweils zwei Gruppen erweitert wurde und in Ost bekam die Mittagsbetreuung einen eigenen Anbau an der Schule. Alle Gruppen sind voll belegt, das gilt auch für die Grundschule West, deren Sprengel zu diesem Schuljahr geändert wurde, "jetzt sind wir wieder ausgelastet", berichtet Ehrecke. An ihrer Schule wird anders als in Ost auch noch eine Ganztagsklasse angeboten. Als Konkurrenz sieht sie das jedoch nicht, "das ist ein ganz anderer Ansatz".

Spielen und Lernen gehen an der Grundschule Ost Hand in Hand. (Foto: Robert Haas)

Beide Leiterinnen sind voll des Lobes über "Little Bird", das neue Online-Portal der Stadtverwaltung, über das die Eltern sich an zentraler Stelle anmelden können. "Da können sie auch gleich eine Priorisierung eingeben", sagt Kraus. Und Ehrecke findet, dass es für die Mittagsbetreuung ein Vorteil ist, "denn man hat vorher nie gewusst, ob sich die Eltern noch wo anders angemeldet haben". Jetzt werden an einem runden Tisch die Plätze vor Schuljahresbeginn verteilt, alle Kinder sind untergekommen. Nur wer erst nach Schuljahresbeginn zugezogen ist oder sich nicht zeitig angemeldet hat, der steht jetzt noch auf einer Warteliste, erklärt Kraus, "denn diese Kinder konnten wir nicht mehr berücksichtigen".

Das Angebot der Nachbarschaftshilfe wird hauptsächlich von der Stadt finanziell bezuschusst. Es gilt für Kinder der 1. bis zur 4. Klasse. Die Grundschüler können die Zeit von 11.20 bis 14.30 Uhr erst mal ankommen und sich frei beschäftigen, sich aber auch an Aktionen beteiligen. Gegessen wird gemeinsam, da entwickelten sich oft tolle Gespräche über das Leben als solches, berichten die Leiterinnen. Sie pflegen enge Kontakte zu Lehrern und Eltern, notfalls auch zu Behörden. Im täglichen Ablauf wird alles wird sehr flexibel gehandhabt. Wenn der erste um kurz nach 12 Uhr schon wieder abgeholt wird, ist das auch in Ordnung, sagt Kraus, "denn die Familie geht vor".

Die Erzieherinnen wie Jessica Appler lassen sich dabei individuell auf die Kinder ein - um etwa beim Spracherwerb nachzuhelfen. (Foto: Robert Haas)

Beide Erzieherinnen berichten, dass die Kinder die Ruhe in der Mittagsbetreuung genießen. "Das Tempo, in dem die Kinder etwas erledigen müssen, steigt", hat Kraus beobachtet. Sie berichtet von dem "gar nicht so seltenen Fall", dass Mütter im Smartphone nachschauen, wann sich ihr Kind mit einem Freund treffen kann: "Übernächste Woche am Mittwoch, da geht's." Dazwischen seien sie verplant mit Sport und Ballett, oder was sie sonst an Hobbys haben. Beobachtet haben die beiden Leiterinnen auch, dass die Ellbogenmentalität bei Kindern zugenommen hat. "Ich, ich, ich", heiße es oft, und wenn es nicht schnell genug geht, dann wird eben das andere Kind zur Seite gestoßen, berichtet Ehrecke. Deswegen sei es so wichtig, die Gemeinschaft zu erleben, Freundschaften zu schließen und Toleranz einzuüben. Auch ein Miteinander und höflicher Umgang mit Erwachsenen und anderen Kindern, eigentlich gängige Regeln wie "Bitte" und "Danke", gehören dazu. Dass die Kinder auch in der Lage sind, gemeinsam ihre Interessen zu vertreten, hat Ehrecke jüngst beobachtet. Ein alter Baum im Schulgarten, auf dem die Kinder gerne herumklettern, sollte gefällt werden. Sie wehrten sich dagegen, sammelten Unterschriften für seinen Erhalt. Und tatsächlich, nach einer erneuten Überprüfung darf der Baum bleiben.

Die Ziele der Erzieherinnen in die Tat umzusetzen, hört sich einfacher an als es ist, denn nicht alle Kinder haben die gleichen Startvoraussetzungen. Manche hätten eine schwierige Kindheit gehabt, andere haben Sprachprobleme. Nicht nur, wenn sie aus Flüchtlingsfamilien kommen, auch Kinder von Wissenschaftlern tun sich mitunter schwer. Angelika Kraus berichtet von einem russischen Jungen, der in England geboren wurde, aber in Japan aufwuchs. Er kam im Alter von sechs Jahren nach Garching und dort in die Schule, "und sprach kein Wort deutsch". Außerdem hatte er nie einen Kindergarten besucht, kannte also keinen Kontakt zu Gleichaltrigen. "Er war komplett überfordert, als er feststellte, dass er nicht alles gleich bekommt." Doch der Junge lernte schnell, die Sprache genauso wie den sozialen Umgang. Der Kontakt ist Angelika Kraus geblieben, und das, obwohl die Familie nur drei Jahre blieb und mittlerweile schon seit zehn Jahren in Kanada lebt. "Aber jedes Jahr zu Weihnachten kommt sein Anruf", erzählt sie, natürlich freut sie das immens.

© SZ vom 27.11.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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