Lesung:Von Riga nach Pullach

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Chris Kraus bei seiner Lesung am Dienstag in Pullach. (Foto: Angelika Bardehle)

Chris Kraus hat Geschichte und Familiengeschichte zu einem Roman verstrickt

Von Christina Hertel, Pullach

Manchmal braucht man im Leben auch einfach etwas Glück. Das hatte der Regisseur, Drehbuchautor und Schriftsteller Chris Kraus ganz offensichtlich. In seinem neuesten Roman "Das kalte Blut" spielt der Vorläufer des Bundesnachrichtendienstes, die "Organisation Gehlen", die in Pullach gegründet wurde, eine große Rolle. Kraus beschrieb örtliche Gegebenheiten, ohne jemals in Pullach gewesen zu sein. Er machte Fehler. Dass ihm letztlich eine große Peinlichkeit erspart blieb, lag an einem Münchner Buchhändler, der ein Vorabexemplar geschickt bekam und Kraus in einem höflichen Brief darauf aufmerksam machte.

Mit seinem ersten Besuch in Pullach wartete Chris Kraus trotzdem noch fast ein Jahr, nachdem der Roman erschienen war: Am Dienstagabend las er daraus in der Pullacher Gemeindebibliothek und nahm seine Zuhörer mit auf eine Reise durch das 20. Jahrhundert - von Riga nach Pullach, zwischen Fiktion und Realität.

Im Mittelpunkt des Romans stehen die zwei Brüder Hubert und Konstantin, "Hubsi" und "Koja" genannt, die aus einer deutsch-baltischen Familie stammen und in Riga aufwachsen. Die Brüder schließen sich später der örtlichen SS-Division an. Hubsi wird als Ideologe beschrieben, Koja als Mitläufer. Beide beteiligen sich an der Ermordung von Zehntausenden Juden. Nach dem Zweiten Weltkrieg arbeiten die Brüder für den Vorläufer des BND, die Organisation Gehlen - gegründet von Reinhard Gehlen, einem Nazi und Wehrmachtsoffizier, der den Angriff auf Russland vorbereitet und sowjetische Truppen ausspioniert hat.

Chris Kraus' Buch erzählt eine fiktive Geschichte, die wahre Begebenheiten einflicht. Reinhard Gehlen vergrub tatsächlich Mikrofilme seiner Russland-Spionagen in den Alpen, die später von den Amerikanern benötigt wurden und ein Grund dafür waren, warum sie ihn den Geheimdienst aufbauen ließen. Erfunden ist, dass ein Deutsch-Balte namens Koja Gehlens Alm malen sollte - in "braun und grün, den schlimmsten Farben der Welt". Außerdem verarbeitet Kraus in dem Roman zum Teil seine eigene Familiengeschichte. Von dem Großvater, den er eigentlich sehr liebte, erfuhr Kraus, dass er als SS-Mann im Baltikum Verbrechen begangen hatte und nach dem Krieg für den Geheimdienst tätig war. Zunächst schrieb Chris Kraus diese Geschichte nur für seine Familie auf. Durch Zufall gelangte das Manuskript an eine Verlegerin. Möglicherweise könnte daraus 2021 eine Fernsehserie entstehen. "Aber wer weiß, ob das tatsächlich passiert", sagte Kraus in Pullach - schließlich sei er dann schon fast 60. Dem Zuhörer bleibt am Ende ein Abend in Erinnerung, der sich unheimlich schnell durch das 20. Jahrhundert bewegt und einen großen Bogen spannt - von Riga kurz nach der Jahrhundertwende bis in die Bundesrepublik der Siebzigerjahre. In dem Buch sind außerdem noch eine Liebesgeschichte und eine Familientragödie verpackt, so dass man sich aus diesem Stoff eine 20-teilige Fernsehserie fast besser vorstellen kann als einen Roman und weit besser als eine zweistündige Lesung.

© SZ vom 15.03.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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