Kirchheim:In Sicherheit

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Im Irak wurden Sami und Leila als Christen bedroht, ihr Sohn starb durch eine Bombe. Darum flüchteten die Eheleute nach Deutschland, wo schon die Tochter lebt. Wenn ihnen die Kirchheimer Cantate-Gemeinde nicht Kirchenasyl gewährt hätte, wären sie dennoch abgeschoben worden

Von David Knapp, Kirchheim

Sami küsst die Bibel, legt sie auf dem Holztisch vor sich ab und nimmt den Rosenkranz in die Hand. Er und seine Frau Leila (Namen geändert) lesen täglich in einer arabischen Ausgabe der Heiligen Schrift. Hier im Jugendcafé der evangelischen Cantate-Gemeinde in Kirchheim finden sie Zeit, sich dem Bibelstudium zu widmen. Seit etwa zwei Monaten lebt das Paar auf dem Gelände der Kirche. Verlassen dürfen die beiden es nicht, denn sie stehen unter dem Schutz des Kirchenasyls. Doch dass Sami und Leila hier leben dürfen, ist für das Paar schon ein großer Schritt nach vorne. Sie haben ein Dach über dem Kopf, genug zu essen, sanitäre Versorgung - und vor allem: Sicherheit. Das war in den vergangenen Monaten nicht selbstverständlich, denn Sami und Leila sind Katholiken, ihre Heimat ist der Irak. Die Nachrichten sind derzeit voll von Meldungen über die Gräueltaten der Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS). Vor allem Christen, Jesiden und Schiiten sind den Schergen der radikalen Gruppe in vielen Teilen des Landes schutzlos ausgeliefert. Die regulären irakischen Streitkräfte sind längst nicht mehr in der Lage, Sicherheit zu gewährleisten. Sami und Leila berichten jedoch auch von einem veränderten Klima, das seit circa fünf Jahren im Irak vorherrscht. Demnach seien es nicht nur die selbsternannten Gotteskrieger des IS, sondern kleine Gruppen mit fundamentalistischer Einstellung, die moderaten Muslimen und christlichen Gemeinden zu schaffen machen.

Bis in das Jugendcafé der Cantate-Gemeinde in Kirchheim war es ein weiter und beschwerlicher Weg. Sami und Leila lebten mit ihrem Sohn Rami und ihrer Tochter Rita in der irakischen Hauptstadt Bagdad. Sami war selbstständig, er betrieb ein Geschäft für Autoöle, Leila war bei der Stadt angestellt. Rita verdiente ihr Geld in einem Kindergarten, Rami in einem kleinen Laden. Die Familie konnte relativ ungestört leben, in diesem Land, das durch die beiden Irakkriege schwere Zeiten hinter sich hatte.

Der Wendepunkt kam, so sagt Sami, am 31. Oktober 2010. An diesem Tag stürmten mehrere schwerbewaffnete islamistische Terroristen die Sayidat-al-Nejat-Kathedrale in Bagdad. Mitglieder der Gemeinde wurden durch Schüsse exekutiert, andere starben durch die Detonationen von Sprengstoffgürteln und Handgranaten. Am Ende waren 68 Menschen tot, darunter der Pfarrer. Wenn Sami heute über die Ereignisse spricht, kann er sich in Rage reden. Das Massaker veränderte vieles. Infolge des Anschlags wurden Christen schikaniert, erpresst und unter Druck gesetzt. "Wir bekamen einen Brief mit einer Patrone", erinnert sich die 51-jährige Leila, der es schwerfällt, über die Vorfälle von damals zu reden. Daher fährt ihr Mann fort: "Die sagten: Du wirst Muslim oder du verlässt das Land." Das Leben der Familienmitglieder war in Gefahr. Die immer wiederkehrenden Bedrohungen und Erpressungen führten dazu, dass ihre Tochter Rita den Irak verließ. Sami, Leila und ihr Sohn Rami blieben. Sie wollten das, was sie in Bagdad aufgebaut hatten, nicht zurücklassen.

Sami und Leila lesen jeden Tag in einer arabischen Ausgabe der Bibel. (Foto: Florian Peljak)

Doch im April 2014 wurden ihre schlimmsten Befürchtungen wahr. Während der 23-jährige Rami im Laden arbeitete, explodierte eine Autobombe in Höhe der nahegelegenen Kirche. Unter den Opfern war auch Rami.

Leila beginnt zu weinen, ihr Mann reicht ihr ein Taschentuch. Sie konnten ihren Sohn nicht einmal bestatten. Leila muss den Raum verlassen, der Schmerz sitzt tief. Hussein Saad, ein Mann mit ägyptischen Wurzeln und des Arabischen mächtig, besucht das Ehepaar häufig auf dem Gelände der Cantate-Gemeinde. Er hilft als Übersetzer, redet mit Sami und Leila, oder kommt einfach auf ein Getränk vorbei. Er hat die Geschichte der Familie schon öfter gehört, doch jedes Mal ist er wieder schockiert über das, was sie durchlebt hat. "Ich helfe den Leuten gerne. Sie sind so nett. Als sie mir das erste Mal erzählt haben, wie es im Irak war, habe ich fast geweint", erzählt er.

Nach dem Tod des Sohnes stand für das Ehepaar fest: Hier können und wollen wir nicht bleiben. Sie wollten zu Rita nach Deutschland. Was dann begann, glich einer Odyssee. Von Bagdad flüchteten sie Richtung Norden zu Verwandten nach Karakosh. Zu dem Zeitpunkt war die Stadt in der Ninive-Ebene, nahe Mossul, noch mehrheitlich von Christen bewohnt. Doch nach der Eroberung Mossuls durch den IS war schnell klar, dass auch Karakosh kein sicherer Ort mehr für Christen war. Berichte der Menschenrechtsorganisation Amnesty International bestätigen die Massenflucht aus der Stadt. Von Karakosh ging es für Sami und Leila rund 70 Kilometer nach Osten in ein Flüchtlingslager nahe Erbil.

Dort lernten sie einen Mann kennen, der in den verfolgten Christen, Jesiden und Schiiten eine gute Möglichkeit sah, Geld zu machen. Sami erzählt, dass der Mittelsmann gute Kontakte zu spanischen Behörden hatte. Er besorgte Visa für die Einreise in die EU und verdiente dabei viel Geld mit der Not der Flüchtlinge. Der 52-jährige Sami sagt trotzdem: "Das war ein guter Mann. Er hat uns gerettet."

Vom Dubliner Übereinkommen, wonach Flüchtlinge ihren Asylantrag in dem EU-Staat stellen müssen, den sie zuerst betreten, hatte der Mann nichts erzählt. Doch das war dem Ehepaar auch egal, schließlich ging es um ihr Leben. Von Erbil über Istanbul flogen die beiden nach Madrid und dann nach Düsseldorf, wo sie ihre Tochter Rita erstmals wiedersahen. "Wir haben geweint. Aber es war sehr schön." Das war im September 2014.

Pfarrerin Susanne Kießling-Prinz hat die Flüchtlinge aufgenommen. (Foto: Florian Peljak)

Kurz darauf stellten Sami und Leila ihren Asylantrag im niedersächsischen Durchgangslager Friedland. In den kommenden Monaten kamen sie mit einer weiteren Familie in einer Wohnung in Hannover unter. Sie hofften, in der Nähe ihrer Tochter bleiben zu können. Doch die Asylanträge wurden abgelehnt: Aufgrund des Dubliner Übereinkommens sollten sie zurück nach Spanien, um dort Asyl zu ersuchen. Auch die Hilfe eines Anwalts, der sich dafür einsetzte, dass die Familie zusammenbleiben kann, änderte an der Entscheidung nichts. Leila, die Verwandte in Kirchheim hat, kontaktierte zwei Neffen, in der stillen Hoffnung, dass sie vielleicht eine Lösung für die Notlage finden könnten. Die Neffen kannten Pfarrerin Susanne Kießling-Prinz und berichteten ihr vom Schicksal der Familie. "Wenn man dann das Einzelschicksal kennenlernt, ist es noch mal was anderes, als wenn man ganz allgemein hört, wie die Situation ist", sagt die Pfarrerin. Der Kirchenvorstand traf sich und entschied schnell: Sami und Leila wird Kirchenasyl gewährt. Beim Kirchenasyl handelt es sich um eine Jahrtausende alte Tradition, die es Schutzsuchenden erlaubt, auf dem Gelände der Kirche zu leben. Das Kirchenasyl dient heutzutage meist dem Zweck, dass nach einer Karenzzeit von sechs Monaten ein neuer Asylantrag gestellt werden kann, unabhängig vom Dubliner Übereinkommen. Da Sami und Leila seit April auf dem Gelände der Cantate-Kirche leben, könnten sie im September Asyl in Deutschland ersuchen. Doch diese Praxis ist umstritten. Erst vor einigen Monaten kritisierte Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) das Kirchenasyl, welches er "prinzipiell und fundamental" ablehne. Begründet liegt diese Ansicht darin, dass Gemeinden dem Staat die Souveränität über das Staatsgebiet teilweise abzusprechen scheinen. Den Befürwortern des Kirchenasyls geht es aber nicht um die Diskreditierung staatlicher Gewalt, sondern um rein humanitäre, ethische Aspekte.

"Ich bin dankbar, dass es so eine Möglichkeit gibt und man in dringenden Fällen was machen kann", erklärt Kießling-Prinz und fährt fort: "Natürlich wäre es das Beste, wenn alle in ihrer Heimat bleiben könnten." Aber so ist es nun mal nicht. Sami und Leila helfen unterdessen tatkräftig im Gemeindeleben mit. Sie kochen für Gottesdienstbesucher, helfen im Garten und bei anderen Dingen, die sonst so anfallen. Sami: "Wir sind so dankbar. Alle haben mehr getan als erwartet" - Pfarrerin Kießling-Prinz, Hussein Saad und alle Gemeindemitglieder, die dabei helfen, das Leben der Familie ein wenig leichter zu machen. Noch sind es ein paar Monate, in denen das Ehepaar auf dem Kirchengelände ausharren muss. Vor allem eines stimmt Sami trotz der vergangenen Monate positiv: "Wenn die sechs Monate vorbei sind, wollen wir erst mal zu Rita. Ich habe große Hoffnung, dass wir wieder mit ihr zusammenleben können."

Am Samstag, 20. Juni, gibt der Gitarrist Johannes Öllinger von 19.30 Uhr an ein Benefizkonzert in der Kirchheimer Cantate-Kirche Kirchheim. Der Eintritt ist frei, Spenden gehen an die beiden Flüchtlinge im Kirchenasyl sowie an humanitäre Hilfe für Flüchtlinge aus dem Irak und Syrien.

© SZ vom 19.06.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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