Ismaning:Spätes Glück

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Ein Instrument zu erlernen, war für viele Generationen nicht selbstverständlich, weil Zeit oder Geld fehlten. In Ismaning erfüllen sich Senioren nun ihren Traum vom Musizieren - mit der Veeh-Harfe

Von Franziska Gerlach

Es gibt diese Momente im Leben, die von einer Sekunde auf die andere alles verändern. Martha Oettl hat einen solchen Moment am Heiligen Abend vor zwei Jahren erlebt. Da nämlich fiel ihrem Enkel auf, dass alle in der Familie ein Musikinstrument beherrschen. Die eine Klavier, der andere Gitarre. Nur seine Großmutter nicht. "Omi, du bist die einzige, die gar nichts kann", sagte der Kleine. In diesem Moment stand für die Ismaningerin fest, dass das so nicht bleiben sollte. Gleich nach den Feiertagen ging sie in der Musikschule vorbei und fragte: "Was kann man noch lernen, wenn man 70 ist?"

Sie meldete sich tatsächlich für einen Kurs an. Doch sie entschied sich nicht für Geige oder Cello, auch nicht für Klavier oder Gitarre. Die heute 72 Jahre alte Oettl tat etwas viel Schlaueres. Sie begann, Veeh-Harfe zu spielen. Ein Musikinstrument, das man im Grunde nicht lernen muss. "Das Revolutionäre daran ist, dass man ohne Vorerfahrung sofort spielen kann", sagt Markus Adam, der an der Ismaninger Musikschule Veeh-Harfe unterrichtet. Idealerweise zupft man die Saiten mit dem Zeigefinger, bei komplexen Stücken spielt man mit drei, vier oder fünf Fingern, was eine gewisse Beweglichkeit voraussetzt. In Ismaning spielte aber auch eine halbseitig gelähmte Dame bereits Veeh-Harfe, wie Adam erzählt: "Sie hat die Melodie eben mit einer Hand gespielt und die Begleitung den anderen Teilnehmern überlassen."

Das Notenlesen bei der Veeh-Harfe ist einfach. (Foto: Stephan Rumpf)

Der Musikpädagoge schätzt die Veeh-Harfe für ihre Einfachheit, lobt aber auch ihre integrative Kraft. "Je älter die Leute sind, desto mehr steht das Erlebnis in der Gruppe im Vordergrund - und nicht das Erlernen eines Instruments bis zur Meisterschaft." Adam hat die Veeh-Harfe vor einigen Jahren in der Arbeit mit geistig Behinderten kennen gelernt, 2008 führte er das Instrument an der Ismaninger Musikschule ein - speziell für ältere Erwachsene. In Zeiten, da Musikschulen aufgefordert sind, auch für Senioren ansprechende Angebote zu erstellen, erlebt die Veeh-Harfe einen kleinen Boom. "Ismaning war da Vorreiter", sagt Adam.

Sphärisch klingt es, ein wenig wie aus einer anderen Zeit, wenn im Probenraum des Hillebrandhofs, des Ismaninger Hauses der Senioren, elf Veeh-Harfen zugleich ertönen. Mit Elfen, Feen oder sonstigen Fabelwesen hat das Instrument aber nichts zu tun. Ein gewisser Hermann Veeh, ein Landwirt im fränkischen Gülchsheim, erdachte sich das Instrument vielmehr 1987 für seinen Sohn, der mit Trisomie 21 zur Welt gekommen war. Inspiriert von der Notenschreibung für die historische Akkordzither tüftelte er über Jahre an einem Instrument, das auf leicht leserlichen Noten basiert und mit einem ausreichenden Abstand zwischen den Saiten versehen ist.

Musikpädagoge Markus Adam. (Foto: Stephan Rumpf)

1992 war die Veeh-Harfe fertigt. Ein Wunderinstrument? "Für die Leute, die sonst nicht den Zugang zur Musik gefunden hätten, definitiv", sagt Musikpädagoge Adam. Das Instrument, das eher an eine Zither erinnert als an eine Harfe, stellt man sich auf die Knie, lehnt es an der Tischkante an und schiebt eine Notenschablone unter die Saiten. Wie die Schnüre einer Perlenkette legen diese sich über die halben, Viertel- oder Achtelnoten. Halbe Noten werden lang gespielt, Viertelnoten kurz, mehr muss man nicht wissen, um sich über die Saiten zu hangeln und der Veeh-Harfe ihren besonderen Klang zu entlocken. Pop, Folk, Gospel umfasst das Repertoire der Spieler. "Querbeet, alles!", sagt Adam. Die Ismaninger verfolgen das Musizieren mit Ambition, inzwischen geben sie auch auswärts Konzerte. Gerade üben sie eine irische Volksweise ein. Das klappt schon so gut, dass Kursleiter Adam seine Veeh-Harfe gegen eine Gitarre tauscht. Die leitende Melodie fehlt nun, die Gruppe ist auf sich allein gestellt.

Ein Herr ist an diesem Tag das zweite Mal dabei, konzentriert ruhen seine Augen auf den Noten. Anton Weigands Finger fliegen dagegen versiert über die Saiten, eine halbe Stunde täglich übt der Rentner. Klassische Gitarre hat der frühere Tontechniker auch schon ausprobiert, dann aber festgestellt, dass das so lässig, wie es bei den Rockstars auf der Bühne aussieht, gar nicht ist. "Die Haltung ist so starr", sagt er. Hildegard Büchler kam zur Veeh-Harfe, weil ihr Chef bei ihrem Ausstand unkte, wie sie erzählt, sie werde ohne Arbeit "in ein tiefes Loch fallen". Sie fiel dann auch. Und zwar mitten in eine sehr muntere Gruppe älterer Erwachsener hinein, die sich im Übrigen ungern als Senioren bezeichnen lassen. Immerhin ist das jüngste Mitglied gerade einmal 55 Jahre alt.

Die Spieler schieben eine Schablone unter die Saiten und folgen der Notenkette. Das macht die Veeh-Harfe für viele zum Wunderinstrument. (Foto: Stephan Rumpf)

Die meisten von ihnen erfüllen sich mit der Veeh-Harfe den späten Traum vom Musizieren. Aufgewachsen im Deutschland der Nachkriegszeit hatten viele als Kinder nicht die Gelegenheit, ein Instrument zu lernen. Als Martha Oettl 1946 mit ihrer Familie aus dem tschechischen Budweis nach Deutschland umsiedelte, fehlte erst das Geld und später die Zeit. Mit 18 heiratete sie, baute eine Firma auf, zog drei Kinder groß - die selbstredend alle ein Instrument lernen durften. Lange Jahre war Oettl die einzige, die nicht musizieren konnte. War, wohl gemerkt. Ein Jahr lang zupfte sie das Instrument, das ihr auch in Momenten der Einsamkeit Trost spendet, zunächst im Geheimen. Als sie am darauffolgenden Heilig Abend dann ihre Veeh-Harfe auspackte und "Stille Nacht" spielte, da waren nicht nur die Augen des Enkels vor Überraschung groß. Sondern auch die Tränen, die ihren eigenen Kindern vor Rührung über die Wangen kullerten.

© SZ vom 13.08.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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