Hohenbrunn/Deffernik:Glocke ohne Heimat

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Das Riemerlinger Findelkind, das jahrzehntelang in der Garage des Fuhrunternehmers Bernd Mayr lag, gehört eigentlich zu einem Schloss in Böhmen. Die spannende Suche nach der Herkunft ist zu Ende

Von Michael Morosow, Hohenbrunn/Deffernik

"Jetzo mit der Kraft des Stranges / Wiegt die Glock mir aus der Gruft / Dass sie in das Reich des Klanges / Steige, in die Himmelsluft" - als Friedrich Schiller im Jahr 1799 die Entstehung einer Glocke in eine lyrische Form gießt, hat ein kleines Glöcklein, gerade einmal einen halben Zentner schwer, bereits 23 Lebensjahre auf ihrem bronzenen Buckel. Irgendwo hoch droben in der Himmelsluft hängt sie an einem Seil. In den 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts wird sie von dem Riemerlinger Fuhrunternehmer Joseph Mayr aus dem Schutt einer Baustelle gezogen. Sie ist noch weitgehend heil, aber stumm. Ein Kaspar Hauser in Bronze. Ohne Klöppel fristet sie ihr weiteres Dasein in einer Garage, wird schließlich vergessen - bis zum April 2015.

Ein Bericht in der SZ über Glocken im Landkreis München erinnert Bernd Mayr, Fuhrunternehmer wie sein Vater, wieder an das bronzene Findelkind, und der 72-Jährige ist von nun an von dem Wunsch beseelt, dessen Herkunft zu erfahren. Ein Fall für Gerald Fischer, den Glockensachverständigen des Erzbistums München-Freising, der sich sogleich an die Fährte der unbekannten Glocke heftet. An diesem Tag im April des Vorjahres beginnt eine spannende Spurensuche, die nach vielversprechendem Start ins Stocken gerät, schließlich aber doch ans Ziel führt.

Die Glocke, auf die sich Bernd Mayr stützt (links), läutete einst im Türmchen von Schloss Debrník. (Foto: Angelika Bardehle)

Wer hat die kleine Glocke gegossen, wo stieg sie einst in die Himmelsluft, wer hat ihr die Zunge rausgerissen, wer hat sie warum im Bauschutt entsorgt wie einen rostigen Eimer? Und vor allem: Wo war sie die ganze Zeit gewesen? Einige Fragen konnte Gerald Fischer auf Anhieb beantworten, als er an jenem Apriltag Bernd Mayr in Riemerling besuchte, um die Glocke zu begutachten, begleitet von Stephan Zippe, dem stellvertretenden Diözesanmusikdirektor des Erzbistums, "Für eine Kirche ist sie zu leicht, für eine Hauskapelle zu schwer", erkannte "Glocken-Profiler" Fischer. Damit war der Kreis der in Frage kommenden Glockentürme schon einmal recht eng eingegrenzt. "Wahrscheinlich hing sie als Einzelglocke in einer richtigen Kapelle", mutmaßte er. Zur Recht, wie sich später herausstellen sollte.

Und weiter ging das Ausschlussverfahren: Als Sterbeglöckchen habe sie wohl nicht gedient, "bei Sterbeglocken ist immer der Heilige Joseph abgebildet", erklärte Gerald Fischer. Hier aber prangen erhaben die Bildnisse der Apostel Petrus und Paulus auf der Glockenflanke. Ziemlich sicher sei die Kapelle, in der das Glöcklein 1776 hinauf in das Reich des Klanges gezogen wurde, Petrus und Paulus geweiht worden, schlussfolgerte Fischer damals im April. Auf dem Wolm, dem unteren Teil des Mantels, liest man neben dem Gussjahr 1776 das Kürzel "IKS". Das "K", so klärte Fischer auf, sei wahrscheinlich ein "H", dessen Steg beim Gießen verrutscht ist. "IHS", das gebe einen Sinn, stehe es doch für das Monogramm Jesu. Der Steg des "H" ist aber nicht verrutscht, wie sich noch zeigen sollte.

Der Prager Glockenfachmann Radek Lunga hat die Herkunft des bronzenen Findelkindes geklärt. (Foto: privat)

Mit einem Blick auf die mit gelber Farbe auf die Flanke geschriebenen Schriftzeichen "C 19/38/361" erkannte der Glockenfachmann: "Sie war im Krieg." Und zwar im Zweiten Weltkrieg, da die NS-Schergen 90 000 Glocken von den Kirchtürmen holen ließen und die meisten von ihnen auf einem von mehreren "Glockenfriedhöfen" wie dem in Hamburg-Veddel landeten, um dort eingeschmolzen zu werden.

Die "Ermittlungen" gehen zügig voran an diesem Apriltag auf dem Pflaster der Garagenzufahrt. Mayrs Bauschutt-Fund, so erklärte Gerald Fischer, hat offenbar das "C" vor dem letzten Gang in den Schmelzofenbewahrt. Die NS-Behörden klassifizierten die Glocken in Typen A, B, C und D. Die Typen C und D repräsentierten historisch wertvolle Glocken, wobei Typ C in "Warteposition", Typ D vor jedem Zugriff geschützt war. Aber in welchem Glockenturm hat sie gehangen, als sie noch verkünden durfte? Stand dieser in München, wo wahrscheinlich der Bauschutt aufgeladen wurde? Oder wird in einer Pfarrei im Landkreis seit vielen Jahrzehnten eine Glocke vermisst? Er werde sich die Auflistung aus dem Jahr 1913 anschauen, in der alle Kirchenglocken der Erzdiözese aufgeführt sind, versprach Fischer. Die Nachschau führte indes zu keinem Treffer. Es schien so, als müsste die stumme barocke Glocke dem Vergessen anheim fallen statt irgendwann wieder dorthin zurückkehren zu dürfen, wo sie 1776 ihren ersten Ton von sich gegeben hat. Das nämlich ist der erklärte Wunsch ihres heutigen Besitzers Bernd Mayr.

Vor wenigen Wochen erhielt der Glockensachverständige der Erzdiözese eine E-Mail aus Tschechien. Absender: Radek Lunga, sein Prager Glockenkollege, dem er einst in seiner Ausbildung als Mentor zur Seite gestanden hatte. Lunga war im Netz auf den SZ-Bericht über die unbekannte Barockglocke gestoßen. In der E-Mail lüftet er ihr letztes Geheimnis: Die Glocke stammt aus Böhmen. Sie hing bis zur Beschlagnahmung durch die Nazis im Jahr 1942 in Debrník (deutsch: Deffernik) im Böhmerwald, in der Nähe von Železná Ruda (Markt Eisenstein) im Türmchen von Schloss Debrník. "Ich habe die entsprechende Karteikarte vom Deutschen Glockenarchiv in Nürnberg und auch das Verzeichnis der C-Glocken aus dem Jahr 1943, wo diese Glocke geführt ist", schreibt Lunga. So weiß er auch, dass das "K" im Kürzel "IKS" keineswegs ein "H" mit verrutschtem Steg ist. Die Inschrift unter dem Heiligen Paulus heißt: "IKS 1776 = Iohann Kristian Schuncke 1776. Schuncke war ein Glockengießer in der Barockzeit, der seine Werkstatt in der Prager Altstadt hatte. Seine Glocken signierte er oft nur mit dem Monogramm IKS (eventuell auch ICS), schreibt der einstige Lehrling seinem Mentor Fischer.

Schloss Debrník existiert seit 1989 nicht mehr. (Foto: privat)

"Die Wanderung dieser Glocke aus der Prager Altstadt bis zum Böhmerwald, weiter nach Hamburg und später nach München ist richtig merkwürdig", sagt Radek Lunga zur SZ. Doch der Prager Glockenexperte hat nicht nur gute Nachrichten für den Riemerlinger Bernd Mayr. Sein Findelkind wird nie mehr im Türmchen von Schloss Debrník schaukeln dürfen. Debrník war nach 1945 Teil des Grenz-Sperrgebietes, das Schloss verkam allmählich und wurde 1989 niedergerissen. Die Glocke hat also keine Heimat mehr.

Wird sie dennoch zurückkehren nach Böhmen, vielleicht als Museumsstück? Findet sich für sie gar eine Kapelle, deren Glocke den Zweiten Weltkrieg nicht überstanden hat und verwaist ist? Bernd Mayr lässt dem Prager Glockenfachmann Radek Lunga ausrichten: "Er darf sich gerne bei mir melden." Vielleicht darf das Glöcklein doch wieder zurückkehren in das Reich des Klanges und Himmelsluft schnuppern. Und einen neuen Lebensabschnitt einläuten.

© SZ vom 16.01.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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