Hohenbrunn:Der mündige Patient

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Weil er selbst an Leukämie litt, wurde Jan Geißler zum Medizin-Experten. Jetzt gibt er sein Wissen weiter

Von Christina Hertel, Hohenbrunn

Als Jan Geißler die Diagnose Leukämie bekommt, beginnt er zu rechnen. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass ich sterbe? Bei einer Knochenmarktransplantation kommt er auf 30 Prozent, wenn er an der Studie für ein neues Medikament teilnimmt, auf neun Prozent. Die Sache ist für ihn klar. Er will es mit der Studie versuchen.

Das ist 14 Jahre her. Jan Geißler ist heute Anfang 40, sieht sportlich aus, trägt Dreitagebart und ein hellblaues Hemd. Mittlerweile wird das Medikament, das damals an ihm getestet wurde, häufig eingesetzt. Doch als Geißler 2001 an Myeloischer Leukämie (CML) erkrankte, einer besonders seltenen Form von Blutkrebs, glaubte kaum jemand daran, dass es ihm helfen würde. "Die meisten Ärzte haben damals gesagt, dass ich früher oder später eine Knochenmarkstransplantation brauchen würde", sagt Geißler.

Er konnte das Risiko nur abschätzen, weil er sich selbst informierte. Nächtelang las er Aufsätze von Ärzten aus dem Ausland. Das Wissen, das er sich während dieser Zeit aneignete, begann er zu teilen. Auf der Homepage "Leukämie online" zum Beispiel und als Patientenvertreter. Für sein Engagement wurde er im April mit der Verdienstmedaille des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland ausgezeichnet.

Geißler war 28, als er erfuhr, dass er Krebs hat. Zwei Jahre zuvor hatte er sein BWL-Studium beendet. Karriere, Erfolg waren ihm wichtig. Und so hielt er die Krankheit vor seinem Arbeitgeber und seinen Kollegen geheim - sieben Jahre lang. "Die meisten haben, wenn sie Leukämie hören, ein bestimmtes Bild im Kopf", sagt er und meint: glatzköpfig, schwach, ans Bett gefesselt. Geißler kämpft dafür, dass dieses Klischee überwunden wird. Um das zu erreichen, will er die Patienten mündiger machen und ihnen Informationen bereitstellen - zu Studien, Kongressen, den neuesten Erkenntnissen.

"In Deutschland ist das Bild von einem Arzt als Gott in weiß sehr verbreitet", sagt Geißler. Dabei könne auch ein Arzt nicht über alle medizinischen Entwicklungen auf dem Laufenden sein. Auf der Website Leukämie online veröffentlicht Geißler deshalb seit 2002 deutsche Zusammenfassungen von Fachartikeln über Studienergebnisse. Ein Jahr später begann er, sich gesundheitspolitisch zu engagieren und gründete mit anderen Patientenvertretern die Europäische Krebspatientenkoalition (ECPC). "Vorher war bei Verhandlungen in Brüssel kein Patient dabei", sagt Geißler. "Wir wollten ihnen eine Stimme geben."

Außerdem organisierte Geißler ein weltweites Netzwerk von CML-Patientenorganisationen, das in mehr als 80 Ländern aktiv ist. Eines der Hauptziele ist es, die Forschung voranzutreiben. Ohne Studien könne man den Krebs nie besiegen, sagt Geißler: "Und deshalb müssen wir auch dafür sorgen, dass sie hier in Europa stattfinden und nicht in China."

Beide Organisationen und die Website baute Geißler ehrenamtlich auf, neben seinem eigentlichen Beruf, und als er selbst noch mit seiner Krankheit zu kämpfen hatte. Nachts schrieb er Artikel, am Wochenende fuhr er zu Kongressen. Wenn er vergaß, dass er seine Tabletten nicht auf nüchternen Magen nehmen darf, stand er am Straßenrand und übergab sich - bevor er ins Büro musste.

Als vollständig geheilt bezeichnet sich Geißler auch 14 Jahre nach der Diagnose nicht. Zwar konnte er vor zwei Jahren die Medikamente absetzen, doch auch heute noch muss er regelmäßig zum Arzt. Die Hälfte der CML-Patienten bekommt einen Rückfall, wenn sie aufhören, die Medikamente zu nehmen, schätzt Jan Geißler. Eine Knochenmarkstransplantation würde für ihn aber nach wie vor nur im Notfall in Frage kommen, sagt er: "Abstoßungsreaktionen sind häufig. Viele erleiden Organschäden."

Seinem Arbeitgeber erzählte Geißler von seiner Krankheit erst, als er kündigte - um von da an ausschließlich im Gesundheitsbereich zu arbeiten. Er wurde Geschäftsführer der Europäischen Patientenakademie, deren Büro in Hohenbrunn-Riemerling sitzt. Sie will Patienten zu Experten machen und zum Beispiel im Bereich der Arzneimittelentwicklung schulen. Außerdem sollen Informationen patientenfreundlicher verfügbar gemacht werden. Jan Geißler ist sich sicher, dass Krebskranke, die sich selbst informieren, länger leben. "Mir selbst hat es damals das Leben gerettet", sagt er.

© SZ vom 06.07.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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