Haar:"Unfassbar schwere Schuld"

Lesezeit: 3 min

Am 20. September 1940 bringt ein Zug 192 jüdische Psychiatriepatienten aus Bayern in eine Anstalt, in der sie ermordet werden. 75 Jahre später wird auf dem Gelände des Klinikums in Haar dieser Opfer des sogenannten Euthanasie-Programms gedacht.

Von Bernhard Lohr, Haar

Rosa Hechinger war verzweifelt. So viele Briefe hatte sie geschrieben. So lange hatte sie schon vergebens darauf gesetzt, dass ein Hilferuf einen ihrer Angehörigen erreichen möge. Am 29. August 1940 wandte sie sich in ihrer Not per Brief direkt an einen ihr sonst freundlich begegnenden Oberarzt. "Endlich kommt mir ein Hoffnungsgedanke, darum schreibe ich Ihnen." Die Patientin der psychiatrischen Klinik in der Nußbaumstaße in der Münchner Innenstadt erbat von ihm die sehnlich erhoffte Entlassung. Sie wisse um ihren Zustand, schrieb sie. "Und doch habe ich Seele, Gemüt und Herzensbildung."

Haar: 75 Jahre erste Deportation von Eglfing-Haar Gedenken im Klinikum Rabbiner Meir Levinger Foto: Claus Schunk (Foto: Claus Schunk)

Statt der Entlassung folgte bald die Verlegung nach Haar-Eglfing und darauf die Ermordung. Sie starb mit 40 Jahren in der Tötungsanstalt Hartheim in Oberösterreich durch Gas, weil sie Jüdin war.

Am Sonntag hat sich zum 75. Mal der Tag gejährt, an dem die Münchnerin mit 191 anderen Menschen ihres Glaubens von der damaligen Heil- und Pflegeanstalt Haar-Eglfing per Zug nach Hartheim gebracht wurde. Es war eine Sonderaktion in Zusammenhang mit dem damals bereits laufenden sogenannten Euthanasie-Programm der Nationalsozialisten, bei dem insgesamt 300 000 Menschen unter anderem in speziellen Tötungsanstalten ermordet wurden. Bereits am 18. Januar des Jahres waren die ersten 25 psychisch Patienten von Haar im Zug in den Tod geschickt worden. Bis zum Ende der "Aktion T4" sollten von Haar mehr als 2700 deportiert werden. Doch der Zug, der am 20. September 1940 dort losfuhr, hatte nicht einfach Kranke an Bord, deren Existenz die Nationalsozialisten als nicht lebenswert einstuften. Die Nationalsozialisten hatten in ihrer perversen Logik angeordnet, die Juden unter den Anstaltspatienten eigens zu selektieren. Vom 13. September an kamen sämtliche jüdischen Patienten aus 19 psychiatrischen Einrichtungen Bayerns in der als Sammelstelle deklarierten Anstalt Haar-Eglfing an. Sie kamen aus Nürnberg, Regensburg oder Lohr am Main und wurden nur wenige Tage später weiter in die Tötungsanstalt gebracht.

Die Namen der bekannten Opfer wurden verlesen. (Foto: Claus Schunk)

Erstmals wurde am Sonntag im Isar-Amper-Klinikum ausdrücklich dieser Opfer gedacht, die, wenngleich sie im Zusammenhang mit der T4-Aktion den Tod fanden, ja doch alleine aufgrund ihrer rassischen Zugehörigkeit ermordet wurden. Die mit Psychiatern und Historikern besetzte Arbeitsgruppe "Psychiatrie und Fürsorge im Nationalsozialismus in München" hat dieses kaum bekannte Kapitel der Judenvernichtung aufgearbeitet. Die Historikerin Sibylle von Tiedemann sagte am Sonntag in Haar vor den etwa 50 Gästen, sie habe mehr als 1300 Krankenakten gesichtet; darunter auch die von Rosa Hechinger, von der zum Glück viele Briefe erhalten blieben. Dank dieser Arbeit konnten am Sonntag von 172 Opfern die Namen öffentlich verlesen werden, darunter Kaufleute, ein Stadtrat aus der Pfalz und auch ein Bekannter von Thomas Mann. 20 Ermordete sind bis heute unbekannt. Die stellvertretende Bezirkstagspräsidentin Friederike Steinberger sprach von "einer unfassbar schweren Schuld", die die frühere Anstaltsleitung auf sich genommen habe. Sie bekannte sich zu der besonderen Verantwortung des Bezirks Oberbayern als Träger der Klinik, was die Aufarbeitung dieser Gräueltaten angeht - und die Aufgabe, dafür zu wirken, dass so etwas nicht noch einmal passiert. Jörg Hemmersbach, Geschäftsführer des Klinikums, sagte, der damalige Anstaltsleiter Hermann Pfannmüller habe "willfährig, gnadenlos und voll umfänglich ausgeführt", was angeordnet worden sei, und Menschen in den Tod geschickt, "weil sie Juden waren". Die Klinik habe erst sehr spät mit der Aufarbeitung dieses dunklen Kapitels begonnen, räumte er am Sonntag ein. Im Jahr 1990 brachten Ärzte und Klinikpersonal anlässlich des 50 Jahre zurückliegenden ersten Todestransports in einem Symposion die Verbrechen öffentlich zur Sprache. Die Selektion jüdischer Anstaltspatienten war allerdings kein Thema, als damals zum Gedenken an die Opfer der sogenannten Euthanasie eine Plastik an der Klinik aufgestellt wurde. Klinik-Geschäftsführer Hemmersbach würdigte in diesem Zusammenhang die Rolle der Gemeinde Haar, die mit der Klinik soeben erst eine Skulptur des Künstlers Werner Mally angekauft hat, mit der im ehemals zum Klinikareal gehörenden Jugendstilpark ein weiterer Erinnerungsort geschaffen werden soll. Damit hole man "die Zeit aus dem Schatten des Gedächtnisses", sagte er.

Am frühen Morgen des 20. September 1940 drängten Ärzte und Pfleger die in der Anstalt Haar versammelten Juden in zwei Waggons, die an der Klinik auf einem heute noch in Resten vorhandenen Gleis abgestellt waren. Es waren Kinder, Jugendliche, Frauen und Männer; darunter viele ältere Menschen. Genau an dem Ort, an dem sie den Zug bestiegen, kamen am Sonntag die Besucher der Gedenkveranstaltung zusammen. Rabbiner Meir Levinger von der Israelitischen Kultusgemeinde München stand lange schweigend auf der Wiese nahe der Halle, auf der noch die Schriftzüge "Geleis 1" und "Geleis 2" an den Toren zu lesen sind. "Es ist schwer, hier ein Gebet zu sprechen", sagte er, und hob zu einem Trauerlied in hebräischer Sprache an.

© SZ vom 21.09.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: