Europäisches Patentamt:Letzte Instanz für Erfinder

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Mit dem Umzug einer Abteilung der Behörde werden in der Gemeinde künftig internationale Rechtsstreitigkeiten entschieden. Im Rathaus sieht man den neuen Dienstsitz als Prestigegewinn

Von Bernhard Lohr, Haar

Von Haar aus werden in Zukunft Rechtsnormen gesetzt, die in der gesamten Europäischen Union Beachtung finden werden - und weit darüber hinaus. Der Verwaltungsrat des Europäischen Patentamts (EPA) hat eine Reform der parallel zu nationalem Recht im Patentwesen existierenden Jurisdiktion beschlossen. Was ist eine Erfindung? Was ist schützenswert, was nicht? In Zukunft entscheidet darüber im Streitfall die neu mit einem eigenen Präsidenten und größerer Autonomie versehene Beschwerdeeinheit des EPA. Deren Dienstsitz wiederum wird sich wohl von Juli 2017 an in Haar befinden.

Die Folgen für die Gemeinde sind noch gar nicht abzuschätzen. Jedenfalls wird es bald polyglotter zugehen in Haar. Internationales Publikum wird erwartet. In dem Eight-in-one-Bürokomplex in Haar-Eglfing nördlich des Bahnhofs werden nicht nur der zum 1. März 2017 bestellte neue Präsident, der Schwede Carl Josefsson, und mehr als 200 Beschäftigte Büros beziehen. Es werden auf den 11 000 Quadratmetern Bürofläche auch Konferenzsäle geschaffen, in denen ähnlich wie in Gerichtssälen öffentlich über Patentstreitigkeiten verhandelt wird.

Vor dem Europäischen Patentamt demonstrierten Beschäftigte gegen den Führungsstil des Präsidenten und den Umzug. (Foto: Robert Haas)

EPA-Präsident Benoît Battistelli bezeichnet die Ernennung Josefssons und die Entscheidung für Haar als "wichtige Schritte" auf dem Weg zu einer unabhängigeren und effizienteren Rechtseinheit. Das gesamte europäische Patentsystem werde profitieren.

2500 Fälle gehen im Jahr bei den Beschwerdekammern ein, über die Juristen, aber auch Ingenieure und Naturwissenschaftler entscheiden. Manchmal geht es um knifflige technische Detailfragen, wie etwa bei einem Patentrechtsstreit im September, bei dem ein großer Haushaltsgeräte-Hersteller eine Verhandlung über eine "Spülmaschinensteuerung zur Bewältigung großer Speiserestmengen durch variierbare Spülprogramme" anstrengte. Die Beschwerdekammer legte schließlich auf 26 Seiten dar, was als Erfindung im eigentlichen Sinn zu betrachten sei und was nicht. Außer den technischen Kammern werden in Haar auch juristische Kammern eingerichtet, dazu eine Kammer in Disziplinarangelegenheiten und eine Große Beschwerdekammer.

Rainer Osterwalder, Sprecher am Patentamt in München, vergleicht letztere mit einer "Art Verfassungsgericht" und betont überhaupt die Bedeutung dessen, worüber in den diversen Kammern verhandelt und entschieden wird. Die Entscheidungen hätten "Strahlkraft", weil sie im Sinne des im angelsächsischen Raum verbreiteten sogenannten Fallrechts in vielen Bereichen die Rechtsetzung bestimmten. Nationale Gerichte orientierten sich an Entscheidungen der Beschwerdekammern, und in Ländern und Regionen der Welt wie in Afrika, in denen ein Patentrecht praktisch nicht existiere, werde auf Europa geschaut. An den Beschwerdekammern arbeite hoch qualifiziertes Personal aus ganz Europa, sagt Osterwalder, viele sprächen fünf Sprachen. Die Amtssprachen: Deutsch, Englisch, Französisch.

Die Beschwerdekammern des Europäischen Patentamts ziehen in den Eight-in-one-Bürokomplex in Haar-Eglfing nördlich des Bahnhofs. (Foto: Fotos: Haas, Bardehle)

Dass künftig über solch grundlegende Dinge nicht mehr in einer europäischen Metropole verhandelt wird, sondern in einem Vorort wie Haar, findet nicht überall Zustimmung. 600 Mitarbeiter des Patentamts demonstrierten vergangene Woche gegen den Kurs des seit langem wegen seines Führungsstils stark unter Druck stehenden Präsidenten Battistelli. Die Mitarbeiter-Vertretung Suepo wertet die Verlegung der Beschwerdekammern als Strafaktion, mit der eine rebellische Abteilung aus dem Behörden-Hochhaus an der Isar vertrieben werde. Behördensprecher Osterwalder freilich streicht heraus, dass ein lange verfolgter Reformplan endlich umgesetzt werde. Die räumliche Trennung von Patentamt und Beschwerdekammern gehe mit einem Gewinn an Autonomie einher: ein eigener Präsident, der nicht mehr dem EPA-Präsidenten untersteht, sondern direkt dem Verwaltungsrat.

Dass Haar Sitz einer EU-weit wirkenden Behörde wird, kann Bürgermeisterin Gabriele Müller (SPD) nur begrüßen. "Für die Gemeinde ist es wirklich ein Prestigeprojekt", sagt sie. Die Geschäftswelt, Hoteliers und Gastronomen würden profitieren. Die heftigen Debatten, die es in Zusammenhang mit dem Umzug innerhalb der Behörde gegeben hat und gibt, will Müller nicht kommentieren. Nur so viel: "Wir werden zeigen, dass Haar Qualitäten hat, für die es sich lohnt, herauszufahren." Allerdings ist Müller bewusst, dass sie erst einmal einen Missstand beseitigen muss, der wohl geeignet ist, das Bild von Haar zu trüben: Das Bahnhofsumfeld bietet seit langem Grund zur Klage. Nun schickt sich die Gemeinde tatsächlich an, auf der Nordseite, wo in Sichtweite des Bahnhofs die neue Behörde ihren Sitz nehmen wird, den Bahnsteigzugang umzubauen. Der Auftrag für das Millionenprojekt soll im Januar vergeben werden. Eine Rampe soll von Ostern an gebaut werden, die Straße soll über eine Brücke darüber verlaufen. Bis die EPA-Mitarbeiter kommen, wird man mit alldem nicht fertig sein. Müller rechnet mit einer Bauzeit von etwa einem Jahr.

© SZ vom 20.12.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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