Café-Chocolateria in Pasing:Lucie im Café mit Kaiserschmarrn

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In der Pappschachtel haben die Geschwister Michel ein Bio-Cafe eröffnet. Die beiden verkörpern auf verblüffende Weise Tempo und Geist dieser Stadt, als seien sie einem Drehbuch von Franz Xaver Bogner entsprungen.

Andrea Schlaier

Das erwartet an der Stelle einfach niemand. Hier, wo die Madonna auf der Säule bei gnädigem Licht ihren goldenen Glanz verströmt und selbst das zumeist übersehen wird, weil das Tosen der 16.000 Fahrzeuge, die täglich um sie kreisen, jede freundliche Regung nieder rollt. Hier also, am Pasinger Marienplatz, spielt sich Erstaunliches ab: Die Hedonisten gehen in die Offensive. Sie sitzen vor der Pappschachtel, diesem bald 100 Jahre alten grauen Flachbau, in gemütlichen Korbstühlen, die Füße in Wolldecken gehüllt, trinken Biokaffee aus Kampanien oder lecken an kühlem Cassis, dem tief brombeerfarbenen Bio-Eis.

Eissorten wie Grüner Tee, Pekannuss oder Schoko-Ingwer füllen die Geschwister Michel in die Waffeln. Die Kunden schlecken, genießen und plaudern über das Leben. (Foto: Robert Haas)

Es scheint, als tun täglich mehr Freunde der entschiedenen Genusslust hier so, als säßen sie an der Maximilianstraße. Animiert hat sie dazu ein Geschwisterpaar, das auf verblüffende Weise Tempo und Geist dieser Stadt verkörpert, als sei es einem Drehbuch von Franz Xaver Bogner entsprungen: Luise "Lucie" und Klaus Michel haben hier Anfang September "Lucie's Café Chocolateria" eröffnet. Ein paar Pasinger lieben sie bereits dafür.

"Wir sind hellauf begeistert, wie wir angenommen worden sind", sagt Lucie mit den lichtblauen Augen und ihrem feinen Lächeln. Während sie erzählt, gleitet die schmale, blonde Frau beständig zwischen Küche, Kaffeemaschine und Eistheke im klitzekleinen Laden hin und her. Die Nachbarin vom Reisebüro hat gerade eine Zuckerwaffel mit Kaiserschmarrn bestellt, die Blondine vom Nagelstudio auf der anderen Seite will den "knackigen Salat mit Soja" probieren. Ein Herr steigt aus dem Bus, der vor dem Café hält, wirft einen Blick in den engen, langen Raum, und ordert einen Cappuccino. "Ich setz mich raus." Wie gesagt, 16.000 Fahrzeuge pro Tag vor der Tür.

Lucie und ihr Bruder Klaus sind nicht ganz fertig geworden zur Eröffnung. Beide Eltern sind pflegebedürftig, der Vater stirbt zwei Tage, bevor sie den Laden aufmachen. Also arbeiten sich die Geschwister von vorne nach hinten durch. Zuerst die Hauptsache: die Eistheke mit Sorten wie Grüner Tee, Schoko-Ingwer, Pekannuss oder Arganöl. Dahinter steht Lucies Ernährungs-Credo: "Wir verwenden keine chemischen Zusatzstoffe, keine künstlichen Aromen, Farbstoffe und Konservierungsmittel."

Inzwischen ist die Küche auch fertig und es wird "Bio to go" serviert, weil's vielen halt pressiert. Wer Zeit mitbringt, kriegt einmal die Woche frischen Fisch oder das Tagesmenü. Im Winter springt dann die Schokoladen-Produktion an. Auf eine Kaloriendiskussion lässt die Chefin sich nicht ein: "Wenn kein Schlonz drin ist, wird man davon auch nicht dick!"

Mittlerweile hat Klaus, der Handwerker des Duos, hölzerne Bar und den langer Stehtisch eingebaut. In weißen Regalen gehen Bionaden, dicke Caffè Gioia-Packungen und kleine Köstlichkeiten in Stellung. Andrea Bocelli verbreitet dramatischen Schmelz und "Sentimento" aus den Musikboxen. Ohne Leidenschaft waren die Michel-Kinder nie zu haben. Das war schon vor 30 Jahren so.

"Damals hatten wir exakt gegenüber einen Laden." Man rechnet, Lucie hilft. Heute ist die Münchnerin 59 Jahre alt. Immer schon war sie hungrig auf Anderssein. Damals zog sie an der Planegger Straße die Rock-Kneipe "Street-Café" hoch. Ein legendärer Club, "weil's bei uns nicht um Lautstärke, sondern Klangqualität ging". Freunde legten auf, das waren der damals taufrische BR-Moderator Fritz Egner und Jung-Darsteller Wolfgang Fierek.

Ein Spezl, der bei einer Plattenfirma arbeitete, hatte Nummern dabei, die vorher noch nie über den Äther gegangen waren. Und weil's der jungen Münchnerin auch die Tanzerei - "Jimmy James, der Choreograf von Caterina Valente, war mein Gschpusi" - angetan hatte, eröffnete sie über dem Club auf 180 Quadratmetern noch eine Breakdanceschule - "die erste in ganz Deutschland."

Alle Freunde aus der Elvirastraße in Neuhausen hatten die Geschwister ins Street-Café mitgeschleppt. Dort hatte Lucie sich 1979 zum ersten Mal selbständig gemacht. Im Ambiente eines Wiener Kaffeehauses trafen sich alle Generationen und Schichten. "Die Marktweiber erzählten deftige Witze, den Studenten hat's gefallen." Mutter Michel kümmerte sich um die Küche und schmierte für den damals kleinen Klaus nebenher Brote. "Mei", sagt Lucie, "und dann hat uns der Gauweiler so aufgeregt und jede Woche den Pasinger Laden wegen was anderem zug'macht. Da haben wir alles verkauft." Der CSU-Jungstar hat sich damals einen fragwürdigen Ruf als Leiter des Kreisverwaltungsreferates erworben.

Es folgten ausgiebige Wanderjahre: Physiotherapie und Yoga-Ausbildung in den USA, Akupunktur in Taiwan, Ayurveda in Australien, dann wieder USA als Ernährungsberaterin für wohlhabende Familien. Die Michel-Eltern wurden krank, zurück nach München, tagsüber Pflege, nachts Taxi fahren, im Winter die Gastro auf dem Hamburger Roncalli-Weihnachtsmarkt. Lucie, die Nomadin.

Ihre neuen Pasinger Gäste sind schon ganz gut im Bilde. Man unterhält sich wohl gesonnen übers Leben, übers Streben. Mit scheinheiligem Getue, sagt die Chefin, könne sie nichts anfangen. "Ehrlichkeit gibt mir Kraft." Dass das augenblickliche Glück nur ein kurzes sein könnte, schreckt Luise Michel nicht. Die Stadt will an Stelle der Pappschachtel, in die sich ihr Café gerade so schön einnistet, ein Einkaufszentrum hochziehen. "Jetzt ist die Miete gering, deshalb kann ich das Experiment mit dem Bio-Eis wagen." Funktioniert's hier, "kann ich später auch um die Ecke in eine Seitenstraße gehen."

© SZ vom 08.11.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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