Kinos:Bloß kein Popcorn

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"Wenn ich es schaffe, dass die Besucher das Kino zu ihrem eigenen Ort machen, funktioniert es." Ihr eigener Ort, das ist zum Beispiel auch das kleine Foyer im Arena-Kino von Betreiber Christian Pfeil. (Foto: Stephan Rumpf)

Christian Pfeil führt Kleinkinos wie das Monopol oder das Arena. Sein Rezept: Programm, Besucher und Ort müssen zusammenpassen. Ein Tag mit dem gelernten Schauspieler, der einen "Riecher" für Stoffe hat - und der schon mal einen Film nicht zeigt, wenn man den nicht gut aussprechen kann

Von Philipp Crone

Auf keinen Fall Popcorn." Wenn das ein Spitzensportler kurz vor dem Wettkampf sagt, in Ordnung. Oder ein Hornist vor einem Solo, auch gut. Aber ein Kinobetreiber? Kein Popcorn, das bedeutet: kein Mampf-Mais mit Mega-Marge. Da schütteln wohl manche den Kopf. Aber Christian Pfeil kennt das. Dass Menschen, mit denen er zu tun hat, den Kopf schütteln. Ein kleines Programmkino aufmachen, so wie das Monopol vor zehn Jahren? Ist der verrückt? Und das Arena übernehmen, mit seiner wirtschaftlichen Schieflage, und davon vier Kinder ernähren? Geht's noch?

Der schlanke Mann mit dem kurzen Haar und der blauen Kapuzenjacke lächelt. Pfeil ist nicht nur Kinobetreiber, sondern auch gelernter Schauspieler. Wenn er nicht weiß, wie man Spannung erzeugt, eine Dramaturgie aufbaut, wer dann? Er lässt zum Beispiel einen Satz gemütlich auf den kleinen Holztisch vor ihm tropfen, der dann langsam seine Wirkung entfaltet: "Kinobesucher wollen Lebenshilfe." Spannung entsteht, wenn sich der Zuschauer oder Zuhörer Fragen stellt, deren Antworten er gerne erfahren würde. Pfeil hat sie. Auch auf die Frage nach dem Popcorn.

Pfeil blickt an einem Mai-Morgen aus dem Arena-Foyer durch die Glastür raus auf die verregnete Hans-Sachs-Straße, zieht die Füße an, stellt sie auf die Stuhlstange vor sich und beginnt zu erklären. Wie der Münchner funktioniert. Im Unterschied zum Kinogänger in Jena, wo er gerade ein Kino eröffnet hat, das seine Schwester führt, oder das in Gera, nahe seiner Heimat. Der 44-Jährige ist eine Art Filmforscher. Er hat die Spezies Kinogänger beobachtet, seit er als Schüler im 3000-Einwohner-Kaff Bad Köstritz einmal in der Woche den Filmvorführer mit seinem mobilen Projektor bewundert hat. Pfeil weiß auch, wie man sich selbst verkauft. Nur Kinogänger, die sich vermarkten können, sind auch erfolgreich.

Also macht er sich zunächst einmal ein wenig sympathisch, indem er sagt: "Ich bin Legastheniker." Diese Schreibschwäche hat er schon früh mit Sprache ausgeglichen. Wobei es auch ein Leichtes ist, ihm zuzuhören, bei der Lebensgeschichte. Zuerst: die Aufsteiger-Story. Als "Unfallkind", zehn und elf Jahre jünger als seine Schwestern, im DDR-Kaff, die Eltern Chemiker, folgte er dem Vater nach, der in einem Chor sang. Dann kamen Stimmbruch und 1988 der Wehrdienst.

Bei seinem ersten Einsatz auf einer Montagsdemo fiel er betrunken vom LKW. "Wir hatten alle Panik und haben zu acht neun Flaschen Kirschwhisky getrunken." Später Innendienst. "Der wurde aber nur 15 statt 18 Monate lang, wegen Abwesenheit des Landes." Noch so ein Satz, der erst einmal ein bisschen im Raum steht, bis er wirkt. Solche Tropf-Sätze kann er.

Pfeil studierte dann in Oldenburg Kunst, Germanistik, visuelle Kommunikation und Psychologie. Lebensdramaturgisch entscheidend: Das erste Praktikum beim Kino. Als Filmvorführer. Ein Jahr, Hunderte Filme, anschließend arbeitete er für eine Filmproduktion als Mann für alles. Der Regisseur braucht drei braune Hühner? Pfeil fährt zum Aldi, kauft Schnaps, fährt weiter zu den örtlichen Bauern und leiht sich Huhn gegen Hochprozentiges.

Pfeil horcht auf im Arena, Gruselmusik grollt heran. Nebenan läuft ein sogenanntes Screening, ein Film wird vorab einem Filmverleiher vorgeführt. Pfeil sagt: "Das ist das Schönste, wenn du aus dem Kinosaal etwas hörst. Wenn der ganze Saal lacht zum Beispiel." Über einen Film, den er ausgesucht hat und der in dem von ihm konzipierten Kino die Leute anspricht, die er als Zielgruppe ausgemacht hat. Wenn der Saal lacht, heißt das übersetzt: "Gut gemacht, Christian!" Lob braucht ja jeder, und die Kreativarbeiter ganz besonders.

Pfeil wird 1993 an der Schauspielschule in Leipzig angenommen, arbeitet anschließend bis 1999 am Theater in Marburg, "aber davon kannst du ja nicht leben, von der Mindestgage an einem Stadttheater". Wer bei der Arbeit Kapuzenpullis trägt, spricht im Künstler-Du.

Pfeil wechselt an die Münchner Schauburg, aber merkte: Theater ist nicht sein Ort. Sein Ort ist das Kino, und zwar eines, in dem man die Füße auf eine Stuhl-Querstange stellen darf, Siebträger-Espresso und Wein trinkt. Er lernt in München den Regisseur Ralf Westhoff kennen, der ihn später in "Shoppen" besetzt, als unsympathischen Verkäufer. Westhoff sagt: "Ich habe bei der Kinotour gemerkt, wie vielseitig Christian interessiert ist. Der schaut weit über den Tellerrand. Und ist ein umtriebiger Netzwerker." Ein sympathischer Verkäufer.

Pfeils damalige Freundin "hat mich dann für einen Job als Filmvorführer beworben." Euphemistisch ausgedrückt. "Und das war wunderbar: Der Vorhang geht auf, der Film ist scharf und die Lüftung gut eingestellt." In dieser so unberechenbaren Welt des Films ist der Filmvorführer derjenige, der sich noch am ehesten vor Launen, Zufällen und Subjektivität der Zuschauer schützen kann, er muss nur den Rahmen schaffen. "Es war gut, egal was auf der Leinwand lief."

Der Regisseur sagte nicht mehr ihm, was er machen soll, sondern er sagte dem Regisseur, ob er seinen Film für gut genug hält, um ihn zu zeigen.

Auf ihn als Fernsehschauspieler "hatte eh niemand gewartet", und das Theater-Einkommen war immer weniger ausreichend, je größer die Familie wurde. Es reifte bei ihm langsam das Gefühl: Ich kann das auch, Filme auswählen. Und er tat etwas, worüber wieder viele den Kopf schüttelten. 2004 eröffnet das Multiplexkino Mathäser, 2005 eröffnet Pfeil das Monopol, und - wieder Kopfschütteln - übernimmt 2006 das Arena, mit einem Haufen Schulden.

Nun musste er nur noch die richtigen Filme zeigen. Aber welche sind das?

"Heute kommen pro Jahr 700 Filme auf den Markt, und ich bin das Nadelöhr, das Relevantes auswählt." Wonach? "Lebenshilfe geht immer", sagt Pfeil, "der Kinosaal ist eine Art verlängertes Sprechzimmer." Etwa "Der große Trip", über eine Frau, die durch den Westen der USA wandert. Und er hat gelernt, auf den ersten Blick marginale Dinge zu beachten. Filmtitel zum Beispiel. "Einen Film wie ,When animals dream' kann man an der Kinokasse schwer aussprechen, allein deshalb wird der dann nicht angeschaut."

Pfeil, der Kinopsychologe. "Ich muss erreichen, dass die Leute wiederkommen wollen. Das tun sie aber nur, wenn sie sich mit den anderen Besuchern wohlfühlen. In einem Multiplex ist das hingegen völlig egal." Leute kommen wieder ins Arena, wenn die Nebensitzer dem Film folgen und nicht aussteigen und reden oder rascheln. "Und meine Besucher wollen die alte Atmosphäre."

Wenn Pfeil abends Tickets an der Kasse verkauft, hört er sehr häufig einen Satz, den er wunderbar wuschelig wurschtig auf Münchnerisch spricht: "Zwoamoi um Achte, mei Frau hod reserviert." Kurze Pause. Spannung. Auflösung: "Kino hat sich bei uns zum Bestandteil des Paarungsrituals entwickelt. Multiplex-Kinos sind männlich dominiert, da geht es oft um die erste Paarbindung, nach dem Motto: Schau Schatz, vor welchen Gefahren ich dich beschützen kann." Solche wie Aliens oder Schurken. Pfeil holt Luft, breitet die Arme aus. "Und schau, Schatz, welches Wildbret ich dir kredenzen kann!" Stimmwechsel von theatralisch in normalisch, "also welchen riesigen Eimer Popcorn." Multiplexzuschauer seien statistisch gesehen jünger. "Später ist das Kino weiblich dominiert. Beziehungspflege findet bei uns statt."

Beziehungspflege an einem angenehmen Ort. "Zu dem man sich aufmacht, aktiv. Und an dem man etwas gemeinsam erlebt. Man profitiert vom Atem der anderen, wenn neben mir einer vor Schreck die Luft einsaugt zum Beispiel." Dabei gibt es sogar Unterschiede in einzelnen Vierteln. "Ein politischer Dokumentarfilm geht im Monopol besser", sagt Pfeil, "Kulturfilme wie über Fassbinder eher hier im Arena."

Das Gespür für den richtigen Stoff. Winfried Sembdner, Arena-Mitarbeiter seit 40 Jahren, sagt: "Seines ist unglaublich." Regisseur Westhoff bestaunt "den Riecher, was spannende, aktuelle und im Moment coole Filmkunst ist, die nichts Verstaubtes hat." Und Regisseur Joseph Vilsmaier ("Comedian Harmonists"), dem Pfeil das Arena damals abkaufte, sagt: "Man hat schon am Anfang gemerkt, dass er eine große Motivation für das Kino mitbringt."

Nachmittag des Mai-Regentages. Pfeil war kurz bei einer Besprechung und sitzt jetzt wieder im Arena vor einer noch immer nicht angerührten Tüte mit Croissants. Dauernd ist etwas. Jetzt Telefon. Den Film müsse er doch zeigen, bearbeitet ihn der Anrufer. Anschließend Anweisungen für einen Lüftungstechniker, dazwischen schlendert ein älteres Paar gemütlich nach der Nachmittagsvorstellung an Pfeil vorbei ins Freie. "Es war toll", sagt sie zu ihm, Pfeil zieht die Beine an.

"Der ,Fack ju Göhte' würde bei meinem Publikum nicht gehen." Passt nicht zum Ort. " Aber ,Frau Müller muss weg' schon." Die gleichen Themen, Lehrer, Schule, Mobbing, nur anders aufbereitet.

Pfeil zeigt keine Werbung, das lohnt nicht, da geht zu viel Zeit verloren. Und Zeit, Timing, ist auch so eine Sache. "Die Filme müssen hier zwischen 19 und 21 Uhr anfangen. In Gera ist 21 Uhr hingegen schon eine Spätvorstellung. Und bei manchen Dokus wollen die Leute hinterher noch ans Tageslicht", also müssen die früh laufen. Überhaupt, die frische Luft, raus aus dem Kino nach dem Film. "Das muss sein." Also nicht zurück in das Foyer und noch ein Glas Wein bestellen? "Meistens geht es danach in eine Bar." Konsumiert wird vorher. "Wenn ein Hader-Film läuft, verkaufen wir doppelt so viel Bier, und bei Komödien besonders viel Essen." Aber eben kein Popcorn, das "schmutzt und stinkt!" Und passt nicht zum Programm, da gibt es kein Popcorn-Kino.

Mit dem von Pfeil umgebauten Arena und seinem zweiten Saal ist der Betreiber, der zusammen mit Markus Eisele die Münchner Kinos führt, flexibler in der Programmwahl. "Manchmal reichen uns im Sommer an einem Tag 50 Zuschauer, um rentabel zu sein." Die wollen dann mittlerweile "den Geschmack des Abends", also die inhaltliche Richtung des Films, schon vorher wissen. "Früher haben sie Wert darauf gelegt, etwas Neues zu lernen."

Ab und an steht Pfeil noch vor der Kamera. Zuletzt für eine Soko-Folge. "Das ist eine gute Abwechslung. Als Darsteller muss man auf eine bestimmte Art autistisch grooven, als Kinobetreiber bin ich nur Geschäftemacher." Nur. Pfeil, der Tiefstapler.

Am späteren Nachmittag, Pfeil hat die Beine wieder auf den Boden gesetzt, es zieht eine duftende Pfeifenrauchschwade durch den Raum, der Kinomann schaut in den Regen. "Wenn ich es schaffe, dass die Besucher das Kino zu ihrem eigenen Ort machen, funktioniert es." Dann blickt er sich um, schaut auf den Schriftzug "Séparée". "Ein Franzose hat uns gesagt, dass wir das falsch geschrieben haben", sagt der selbsternannte Legastheniker und grinst breit. Das ist definitiv sein Ort.

Das Séparée im Arena gibt es im Übrigen nicht mehr. Nur noch die Schrift. Das ist eben so, wie ein Pfeil-Ort ist: Leicht verschmitzt, ein wenig geheimnisvoll und damit irgendwie angenehm anders, sodass man gerne wiederkommt.

© SZ vom 15.05.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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