Integration:Den Menschen hinter dem Etikett kennenlernen

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In der Ausstellung "Zeig mich!" haben die jungen Münchner versucht, sich gegenseitig in Szene zu setzen. (Foto: Johannes Simon)

Im Projekt "Youthnet" wollen christliche, muslimische und jüdische Jugendliche bewusst einen Kontrapunkt zu rechten Strömungen setzen

Von Jonathan Fischer

"Meine Heimat ist die Welt", sagt Mohammad Ali, ein 17-jähriger Elektrikerlehrling aus Afghanistan. Auf der Flucht nach Deutschland sei er durch zehn Länder gekommen. Er habe viel Schreckliches erlebt, aber er sei auch immer wieder auf hilfsbereite Menschen getroffen. "Ich brauche nur zwei Ohren, die mir zuhören und zwei Hände, die mir helfen". Mohammad Ali lächelt etwas schüchtern. Genießt die Aufmerksamkeit der Zuhörer in der Turnhalle des Oskar-von-Miller-Gymnasiums. Vertrauen, man selbst sein dürfen, das bedeutet auch für den 17-jährigen Uri Sharell und die 15-jährige Arezo Gholami Heimat. Arezo Gholami kam erst vor zwei Jahren aus Iran nach Deutschland. Heimat "muss ein Ort sein", ergänzt die Münchner Gymnasiastin Franziska Hafner kämpferisch, "den ich mitgestalten kann".

Damit meint sie nicht nur die in den Schulgängen präsentierte Fotoausstellung "Zeig mich!", in der sie zusammen mit einem guten Dutzend christlicher, jüdischer und muslimischer Jugendlicher versucht, den jeweils anderen in Szene zu setzen. Sondern sie meint auch das Podium, auf dem sie gerade sitzt: endlich mal Prominente, die statt über Jugendliche mit ihnen reden, sich für ihre Standpunkte interessieren. Was ist für dich Heimat? Wo siehst du deine Verantwortung für die Gesellschaft? Was erwartest du von der Gesellschaft, um dich zu engagieren, selbst etwas zu geben?

Nach einem Wochenende, an dem Deutschland über den Sinn eines Heimatministeriums streitet, Horst Seehofer behauptet, dass der Islam nicht zu diesem Land gehöre und Pegida Dresden mitten auf dem Marienplatz fremdenfeindliche Parolen brüllt, könnte keine Diskussion aktueller sein.

Jedenfalls setzen die Jugendlichen des "Youthnet"-Workshops bewusst einen Kontrapunkt: In der Theorie mögen Verständnis, Annäherung und Inklusion schrecklich schwierig sein und ganze Abhandlungen füllen. Praktisch passieren sie von selbst - wenn erst mal die Hürden aus dem Kopf geräumt sind. Das ist die Erfahrung von Eva Rapaport. Und das ist der Grund, warum die Münchnerin die Organisation "Youthnet" ins Leben gerufen hat. Sie habe gemerkt, dass Vorurteile nur abschmelzen, wenn sich Jugendliche verschiedener ethnischer und religiöser Herkunft wirklich nahe kommen. Wenn sie zusammen arbeiten. "Und plötzlich den einzelnen hinter dem Etikett erkennen", sagt sie.

Eva Rapaport hat seit drei Jahren ihre Villa in Solln der Flüchtlingsarbeit zur Verfügung gestellt. Bereits im vergangenen Jahr brachte sie Jugendliche mit und ohne Migrationshintergrund zusammen. Sie ließ ihre Beziehungen zu Jugendhilfeträgern, der jüdischen Gemeinde und Münchner Schulen spielen, um ein erstes Netzwerk aufzubauen. "Youthbridge" hieß es damals noch. Ein interreligiöses Workshop-Konzept, das in New York schon seit längerer Zeit erfolgreich läuft. Die Teilnehmer werden dabei zu Mentoren für nachfolgende Gruppen ausgebildet.

Mit "Youthnet" hat Rapaport das Projekt nun auf Münchner Verhältnisse zugeschnitten. "Wir haben beim letzten Mal gelernt, dass wir uns noch intensiver kennenlernen müssen, wir keine Angst vor Fragen haben dürfen", sagt sie. Was das konkret bedeutet? Ein halbes Jahr lang haben die Jugendlichen zusammen mit muslimischen, jüdischen, christlichen und jesidischen Mentoren ihre Ausstellung vorbereitet. So beeindruckend die Porträts auch geworden sind: Bei den neun Treffen ging es erst zuletzt um das Fotografieren.

Denn: Wer den anderen abbilden will, muss ihn erst sehen. Muss ihn erspüren und erleben. Also gingen die Jugendlichen in wechselnden Teams aufs Volleyballfeld. Mit einer Schauspiel-Trainerin probierten sie sich in Rollenspielen aus. Sie fragten ihre Gefühle ab und interviewten sich gegenseitig. "Ich dachte nie, das ich so etwas machen könnte", gesteht Mokhtar Hussaini, ein 17-jähriger Afghane. "Aber es hat mich verändert."

Andere Teilnehmer erklärten, sie hätten zum ersten Mal überhaupt darüber nachgedacht, wie sie eigentlich kommunizieren. Und die Jugendlichen haben sich getraut, ihre vorgefassten Meinungen etwa zu Flüchtlingen, Muslimen oder Juden über Bord zu werfen.

"Wir haben meist nur Halbwissen voneinander", sagt Gönül Yerli vom Islamischen Forum in Penzberg, die sich das Podium mit den "Youthnet"-Jugendlichen, Ursula Münch, Leiterin der Akademie für politische Bildung in Tutzing, Johannes Seiser vom Verein für Sozialarbeit und der Autorin Lena Gorelik teilte. "Mir wird unterstellt, dass ich als Muslima mit Migrationshintergrund nicht zu Deutschland gehöre", sagt sie. Dabei habe sie nur wegen ihrer katholischen Religionslehrerin später muslimische Pädagogik studiert - und katholische Theologie gleich noch dazu.

Dreihundert Schulklassen empfange sie jedes Jahr in Penzberg. Erst neulich habe ihr ein Viertklässler die Hand entgegengestreckt mit den Worten: "Ich werd's meinem Papa sagen, ihr seid's gar ned so schlimm." Auf die selbe Art, so hat Rapaport beobachtet, lässt sich auch Antisemitismus abbauen. Dass man selbst aktiv werden müsse, um eine tolerante Gesellschaft aufzubauen - darin sind sich alle Workshop-Teilnehmer einig. "Jedes Gespräch ist eine neue Chance", sagt Arezo Gholami. Eva Rapaport plant indes schon weiter. Sie will im Oktober den nächsten Workshop anbieten - und expandieren. Voraussetzung dafür aber sei, dass sie ausreichend Sponsoren finde "Wenn es mehr Jugendliche wie diese auf dem Forum geben würde", sagt sie zum Schluss in die Runde, "hätten wir dann noch ein Problem in unserem Land?"

© SZ vom 20.03.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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