Muskelschwund:Niemals allein

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Er sitzt im Rollstuhl, wird beatmet und ist auf stets funktionierende Technik angewiesen: Simon ist 14 Jahre alt und leidet an spinaler Muskelatrophie.

Von Ariane Lindenbach

Seine Eltern ahnen nichts, bis Simon auf die Welt kommt. Dann tauchen bei der Geburt erste Probleme auf: Der Neugeborene läuft blau an, bekommt keine Luft. Die Ärzte stellen eine Lungen-Venen-Fehleinmündung fest: Intensivstation, Brutkasten, am nächsten Tag sieben Stunden Operation am Herzen. Dann scheint sich alles zu normalisieren, Simon wird nach drei Wochen aus der Herzklinik entlassen. Doch nach etwa vier Monaten stellt der Kinderarzt bei einer Routineuntersuchung fest, dass die Reflexe des Babys erloschen sind. Die weiteren Untersuchungen im Kinderzentrum München ergeben: Spinale Muskelatrophie, eine Erkrankung, die landläufig als Muskelschwund bekannt ist.

Simons Mutter Petra Neitzel sitzt auf einem gepolsterten Hocker in einem ebenerdigen und geräumigen Zimmer. Auf der einen Seite füllt den Raum ein rotes Ecksofa mit Couchtisch, neben einem Weihnachtsstern liegen ein paar Spritzen. Die Wand gegenüber wird von einer hellen Regalwand eingenommen. In der Mitte ein Flachbildschirm-Fernseher, rechts ein Computer-Arbeitsplatz ohne Stuhl, in den Fächern bunte Rücken von DVDs und Büchern. Simon, der inzwischen 14 Jahre alt ist und im Rollstuhl vor den gelben Vorhängen sitzt, nickt auf die Frage, ob das sein Reich sei. Ein freundliches Lächeln umspielt seine Lippen, mit den kurzen dunkelblonden Haaren über seinen blauen Augen wirkt er sehr freundlich und offen. Vorne am Hals kommt ein Schlauch aus seiner Luftröhre, der sich hinter seinem Rücken irgendwo verliert. Durch den Schlauch wird Simons Körper mit Sauerstoff versorgt; seine Muskeln allein würden das Atmen nicht schaffen. Das Beatmungs- und das dazugehörige Absauggerät, mit dem ihm immer wieder der Schleim abgesaugt werden muss, da auch für das Abhusten die Muskeln fehlen, sind Simons ständige Begleiter. Ohne sie kann er nicht überleben.

Das ist zwar nur ein Aspekt der spinalen Muskelatrophie, aber da er von so existenzieller Bedeutung ist, lässt sich daran vielleicht am anschaulichsten erläutern, was es bedeutet, mit einer so schweren Erkrankung leben zu müssen. Wegen der Beatmung kann Simon zum Beispiel nicht wirklich alleine sein; er braucht immer eine kompetente Person um sich, die ihm bei Bedarf das Bronchialsekret aus der Luftröhre saugen kann. Deshalb kommt die Krankenschwester, die Simon bei seinem Schulbesuch in der Realschule der Pfennig-Parade in München begleitet, auch morgens zur Familie Kaiser nach Gröbenzell (Petra Neitzel hat nach der Hochzeit ihren Mädchennamen behalten). Die Schwester begleitet den 14-Jährigen auch auf seinem Schulweg, wenn er um 7.45 Uhr vom Fahrdienst abgeholt und mittags wieder nach Hause gebracht wird. Alleine kann er nicht fahren, betont seine Mutter. Was, wenn er während der Fahrt abgesaugt werden muss?

Diese Problematik ändert sich auch nicht, wenn Simon mit seiner Mutter, die selbst Krankenschwester ist, oder anderen Personen unterwegs ist. Immer muss jemand dabei sein, der ihn absaugen kann. Besonders schwierig wird das im Winter. Die Infektanfälligkeit ist bei Simon, der so gerne einen Hockeyschläger für seinen Rollstuhl hätte, ohnehin hoch. Wegen des Tracheostomas, wie die operativ angelegte Öffnung der Luftröhre medizinisch heißt, gelangt die kalte Luft ohne den Umweg über die Nase direkt in die Luftröhre und kann sich nicht erwärmen. Deshalb, erläutert Neitzel, dürfe sich Simon im Winter nicht im Freien aufhalten, selbst eine Fahrt mit den öffentlichen Verkehrsmitteln geht nicht. Bleibt also nur das Auto, ein schon in die Jahre gekommener VW-Bus. Doch wenn sie mit Simon im Auto irgendwohin fahren wolle, "brauche ich entweder einen Fahrer oder einen Krankendienst", erläutert die Gröbenzellerin, die sich nebenbei als Regionalbeauftragte Bayern im bundesweiten Verein "Intensivkinder zuhause" engagiert. Denn gleichzeitig Auto fahren und absaugen geht nicht. Und oft genug dauert es im Straßenverkehr, bis man anhalten kann. Nur auf Sauerstoff kann man nicht so lange verzichten.

Neitzel erzählt noch ein Erlebnis, das verdeutlicht, wie abhängig Simon und damit letztlich auch sie, ihr Mann und Simons 20 Jahre alter Bruder von der funktionierenden Technik sind: Simon und seine Mutter waren im Oktober wegen eines Arztbesuchs in München. Die externe Batterie des Beatmungsgerätes war damals nur mit einem statt der normalerweise üblichen zwei Akkus ausgestattet; doch der Strom hätte bis zur Heimkunft gereicht. Dann dauerte aber der Arztbesuch länger als erwartet, und als die beiden in Gröbenzell aus der S-Bahn stiegen, war dort Stromausfall. Der Aufzug funktionierte nicht, zu einer nahe gelegenen anderen S-Bahn-Station zu fahren und sich dort von Simons Bruder abholen zu lassen, ging auch nicht, weil der VW-Bus in der Tiefgarage stand und deren Tor mit Strom betrieben wird. Letzten Endes kam die Freiwillige Feuerwehr: Sechs Mann trugen Simon in seinem Elektro-Rollstuhl die Treppe hinunter, ein siebter dirigierte sie. So kam Simon noch rechtzeitig zu seinem Ersatz-Beatmungsgerät.

Schwierigkeiten beim Schlucken, Probleme, Krankenschwestern zu finden, die Simon beim Schulbesuch begleiten oder der Ärger mit den Krankenkassen: Simon schläft im ersten Stock des Reihenhauses, bisher tragen ihn seine Eltern hinauf. Doch da er wächst und schwerer wird, überlegen sie, einen Aufzug einbauen zu lassen. Die Krankenkasse zahle das nicht, sagt Neitzel. Doch es gibt auch Positives: Die Hilfe, die die Familie beim Verein Buss-Kinder gefunden hat."Sich austauschen und verstanden werden", so Neitzel, sei für sie eine große Hilfe.

© SZ vom 30.11.2013/fzg - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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