Gastbeitrag:Wir erwarten, dass Deutschland Haltung zeigt

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Um die kurdischen Milizen aus Afrin zu vertreiben, greift die Türkei seit Januar die syrische Stadt an. Zehntausende Menschensind bereits geflohen. Die Forderungen nach einem Ende der Kämpfe werden immer lauter

Von Haydar Isik

Im Voraus möchte ich sagen, dass die Rechte der Kurden in der Türkei schon immer missachtet worden sind. Seit Jahrzehnten werden ihre Forderungen nach sozialer, kultureller und wirtschaftlicher Gleichberechtigung unterdrückt, oft mit militärischer Gewalt. Die vielen Millionen Kurden in der Türkei werden als potenzielle Gefahr betrachtet und sind Repressalien ausgesetzt. Auch die Verfolgung der Kurden in anderen Ländern, wie Syrien, Irak und Iran, gehört zur Agenda der Türkei. Als ich 1937 zur Welt kam, hat die Türkei unter Kemal Atatürk mehr als Zehntausend Kurden in meiner Heimat Dersim massenhaft getötet, weil diese ihren alevitischen Glauben ausleben und ihre Sprache sprechen wollten. Auch Frauen und Kinder, die sich in den Berghöhlen verschanzt hatten, wurden mit Giftgas getötet. Als sich die Bundesrepublik im Jahr 1990 die DDR einverleibte, hat die Regierung Kohl der Türkei eine Menge Waffen aus den Beständen der Nationalen Volksarmee (NVA) geschenkt. Mit diesen Waffen hat die Türkei unzählige kurdische Dörfer zerstört und mindestens zehntausend bekennende Kurdinnen und Kurden ermordet.

Als die IS-Terroristen dann in die Stadt Kobanê eingefallen sind, hat Erdoğan im Jahr 2014 an der syrischen Grenze gesagt: "Kobanê wird bald fallen!" Er war derjenige, der die in Europa in vielen türkischen Moscheen indoktrinierten Terroristen ungehindert nach Syrien und in den Irak hat reisen lassen, um dort gegen Kurden zu kämpfen. Er lieferte den Dschihadisten Waffen, gab ihnen Infrastruktur und ermöglichte es ihnen, ihre Verwundeten in türkischen Krankenhäusern zu behandeln.

Auf der Flucht: Um der türkischen Belagerung zu entgehen, versuchen Zivilisten mitsamt ihrem letzten Hab und Gut die Stadt Afrin in Syrien zu verlassen. (Foto: AFP)

Seit dem ersten Wahlsieg 2002 versucht Erdoğan seine Macht zu festigen, erst als liberal-islamistischer, dann als konservativ-islamistischer Politiker, und seit 2015 durch Forderungen nach einer Wiedereinführung der Scharia. Er nutzt den angeblichen Militärputsch als Gottesgeschenk, um seine Gegner einzukerkern. Heute sitzen Tausende Kurden und türkische Intellektuelle in den Gefängnissen. Der Vorsitzende der kurdischen Partei HDP, Selahattin Demirtaş, zahlreiche gewählte Abgeordnete der Partei und mehrere kurdische Bürgermeister und Parteimitglieder sind im Gefängnis.

Um die Präsidentschaftswahl 2019 gewinnen zu können, ist Erdoğan mit der Ultra-Nationalisten-Partei MHP eine islamistisch-türkische Allianz eingegangen. Danach hat er mit allen staatlichen Möglichkeiten versucht, die Kurden als Feinde und Ketzer zu diskreditieren. Er hat Hass gegen Kurden gesät. Natürlich erhöht die nationalistische Partei den Druck gegen Kurden noch weiter. Zur Zeit wird in den sozialen Medien von Gelehrten des "Syrischen Islamrats", die Erdoğan gleich gesinnt sind, eine Fatwa verbreitet. Sie ist voller Hass und Verachtung für die Kurden. Diese werden darin als Ketzer, Ungläubige, Feinde der syrischen Revolution und als Kollaborateure des Regimes und der Amerikaner bezeichnet. Demgemäß sei die Bekämpfung und Ermordung der Kurden im Sinne des Dschihad legitim und es spreche nichts dagegen, zu diesem Zweck die Hilfe der Türkei in Anspruch zu nehmen. Begründet wird dieser Standpunkt mit einem Koran-Zitat aus der Sure "Die Kuh": "Tötet sie in Gottes Namen die, welche euch töten!" Diese sogenannte Fatwa ist unterzeichnet von 14 angeblichen Islamwissenschaftlern und entspricht dem bekannten Standpunkt von ISIS und auch der AKP, dass Kurden Ungläubige seien und getötet werden dürften.

Wegen seines politischen Engagements für die Kurden musste Haydar Işik 1974 die Türkei verlassen. Der 80-Jährige lebt in Maisach und verfolgt die Situation in seiner Heimat weiter kritisch. (Foto: Johannes Simon)

Obwohl der Angriff der Türkei auf die syrische Stadt Afrin völkerrechtswidrig ist, lässt Erdoğan in vielen Moscheen, auch in Deutschland, Eroberungsgebete abhalten. Darin spricht der Imam den Text: "O Gott, lass unsere Armee siegen." Die Anwesenden sagen "Amen." "O Gott, gib unserem Feind eine vernichtende Niederlage!" "Amen." Wenn sich jemand gegen diesen Krieg stellt oder in den sozialen Medien Kritik übt, wird er verhaftet. Seit dem 20. Januar hat Erdoğan jeden Tag bekannt gegeben, wie viele "Terroristen" er "neutralisiert", also getötet hat. Je nach Höhe der Zahlen, geben ihm seine Anhänger neue Titel wie Marschall, Eroberer von Afrin, Leader des Jahrhunderts, Retter des Islam, Ra'is (Führer). Bei einigen in der Türkei herrscht also Freude darüber, zu beobachten, wie die Kurden ausgerottet werden. Kurz gesagt es herrscht ein Klima des Völkermords gegen Kurden.

Warum aber will Erdoğan Afrin überhaupt erobern? Die Stadt war eine Oase des Friedens und hat viele Flüchtlinge aufgenommen. Es herrscht dort eine Basisdemokratie. Erdoğan will den kurdischen Widerstand schwächen, um den islamistischen Terroristen die Möglichkeit zu geben, sich neu zu formieren. Außerdem sagt der türkische Präsident ganz offen, dass er die Kurden aus Afrin und Rojava vernichten will, um die sunnitischen syrischen Flüchtlinge, die sich zu ihm bekennen, dort anzusiedeln. Ist das nicht Völkermord?

Wenn Erdoğan mit deutschen Panzern und Waffen in Afrin Zivilisten ermorden lässt und Dörfer und Städte dem Erdboden gleichmacht, wirft das bei vielen Kurden natürlich die Frage auf, warum Deutschland diesen Angriff nicht stoppt. Wenn er auf einmal mit Dutzenden Flugzeugen kurdische Dörfer und Städte bombardiert, wird Deutschland sich nicht aus diesem Krieg raushalten können. Wenn er mit deutschen Waffen völkerrechtswidrig nach Afrin marschiert, kann Deutschland nicht sagen, es habe damit nichts zu tun. Wenn Deutschland auf Wunsch der Türkei kurdische Organisationen verbietet und die Verwendung kurdischer Symbole unter Strafe stellt, macht es sich aus der Sicht vieler Kurden zum Helfer des faschistischen Erdoğan-Systems. Wir erwarten von Deutschland, das sich seiner Verantwortung für die Verbrechen der Nationalsozialisten bewusst ist, dem türkischen Nationalismus nicht beizustehen. Wir, die Kurden, klagen an, und erwarten von der deutschen Politik, eine moralische und gewissenhafte Haltung gegen diesen Völkermord zu zeigen und diesem Despoten-Regime keine Waffen zu liefern. Wer Anstand, Moral und Gewissen hat, stellt sich gegen diesen Faschisten.

© SZ vom 17.03.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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