Fürstenfeldbruck:Evolution durch Zuwanderung

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Nach dem Zweiten Weltkrieg war jeder vierte Bewohner des Landkreises ein Flüchtling oder Heimatvertriebener. Damals wie heute sind die Behörden mit der Aufgabe überfordert, genug Wohnraum zu finden. Der Wirtschaftshistoriker Klaus Wollenberg zieht aus der Nachkriegszeit die Lehre, trotz aller Schwierigkeiten gelassen zu bleiben

Von Gerhard Eisenkolb, Fürstenfeldbruck

Thomas Karmasin ist nicht der erste Landrat im Landkreis, der bei der Unterbringung von Flüchtlingen an Grenzen stößt. Das sind Grenzen der Belastbarkeit, vor allem aber Grenzen in Folge des fehlenden Wohnraums. In der jüngeren Geschichte des Landkreises ist das nichts Neues. So sahen sich die beiden ersten gewählten Landräte nach dem Zweiten Weltkrieg wie Karmasin jetzt von der Aufgabe überfordert, Flüchtlingen, die damals eigentlich Heimatvertriebene waren, Unterkünfte zu verschaffen und sie trotz einer nicht immer wohlwollenden Aufnahme zu integrieren.

Allerdings waren die Dimensionen ganz andere. Weil er sich dem Flüchtlingsproblem nicht mehr gewachsen sah, stellte der erste demokratisch gewählte Landrat Hans Wachter sein Amt im Dezember 1947 zur Verfügung.

Sein Nachfolge Ernst Raadts resignierte ein halbes Jahr später aus den gleichen Gründen. Raadts trat aber nach einer Pause von rund einem halben Jahr das Amt wieder an, um dann umso länger zu bleiben: bis 1964 war er Landrat. In einem Beitrag für das Landkreisbuch bezeichnet der Wirtschaftsprofessor und Kreisrat Klaus Wollenberg die Aufnahme und Integration von Vertriebenen und Flüchtlingen in den Nachkriegsjahren als "Revolution des Landkreises Fürstenfeldbruck", die das wirtschaftliche und soziale Gefüge grundlegend veränderte.

Nach dem Zweiten Weltkrieg war jeder vierte Bewohner des Landkreises ein Flüchtling und brauchte eine Unterkunft. (Foto: Gemeindearchiv Grafrath/oh)

Da die Integration der Vertriebenen trotz aller Schwierigkeiten gelang, wurde laut Wollenberg aus der Revolution letztlich eine geglückte Evolution. Also die Weiterentwicklung des damals noch ländlich geprägten, von Kriegsschäden einigermaßen verschonten Landkreises zu dem dicht besiedelten Lebensraum im Münchner Westen, der er heute ist. Mit einer teilweise bereits städtischen Infrastruktur und vor allem mit einer hohen Lebensqualität, die viele der Menschen, die hier leben, so schätzen.

Wie gigantisch die Herausforderung in den Jahren 1945 bis 1948 war, stellt die Historikerin Angelika Vox in der vom Landratsamt 1998 herausgegebenen Schrift "Flüchtlinge und Vertriebene im Landkreis Fürstenfeldbruck - Aspekte ihrer Eingliederung seit 1945" anhand vieler Details auf 180 Seiten dar. Bei der ersten Nachkriegsvolkszählung im Landkreis waren bereits im Oktober 1946 13 134 Flüchtlinge registriert worden, was damals einem Anteil von 20,4 Prozent an der Wohnbevölkerung entsprach. Dazu kamen noch mehr als zweitausend aus München Evakuierte und fast tausend Displaced Persons, also freiwillig oder zwangsweise umgesiedelte Zivilisten aus dem Ausland. Im September 1950 war bei bereits 16 699 Vertriebenen jede vierte im Landkreis lebende Person in den Nachkriegswirren geflohen. Zum Vergleich: Anfang November dieses Jahres leben im Landkreis rund 2400 Flüchtlinge, die vor allem aus den Krisengebieten im Nahen Osten und in Afrika und vom Balkan kommen.

Arbeit fanden viele Heimatvertriebene auf den Feldern im Landkreis. (Foto: Gemeindearchiv Grafrath/oh)

1946 stammten die meisten, nämlich 6430 der Flüchtlinge aus dem in der damaligen Tschechoslowakei aufgegangenen Sudetenland, 3439 aus dem östlich der Lausitzer Neiße gelegenen Teil von Schlesien, 952 aus dem übrigen verloren gegangenen Reichsgebiet östlich von Oder und Neiße, 559 aus Jugoslawien. Die ersten beiden großen Flüchtlingstransporte mit 1600 Menschen trafen bereits im März 1945 in Fürstenfeldbruck ein. Ein Teil dieser Flüchtlinge wurde in der Kreisstadt in drei Baracken an der Augsburger Straße einquartiert. Der letzte große Transport erreichte den Landkreis im September 1946 mit 661 Ausgewiesenen aus der damaligen Tschechoslowakei. Deren Zugfahrt in 34 Viehwaggons dauerte fünf Tage, bis sie in Dachau erstmals eine warme Mahlzeit bekamen: eine Wassersuppe mit gelben Rüben. Auch wenn er riesig war, war nach einer gewissen Zeit ein Ende des Zustroms an Vertriebenen abzusehen. Zudem stammten diese aus dem gleichen Kulturkreis, auch wenn das nicht immer so gesehen wurde und es Vorbehalte gegen die Fremden gab.

Vergleichen lässt sich die Situationen vor 70 Jahren also nicht wirklich mit der aktuellen, darauf legt der Kommunalpolitiker und Wirtschaftsprofessor Wollenberg großen Wert. Dafür gibt es zumindest einige Parallelen - und es lassen sich aus den Erfahrungen von vor 70 Jahren einige Lehren ziehen. Eine könnte lauten, sich nicht durch die Stresssituation ins Boxhorn jagen zu lassen, sondern sich trotz aller Schwierigkeiten eine Portion Gelassenheit zu bewahren. Schließlich, so Wollenbergs Fazit, gab es immer Epochen, in denen Fremde in großer Zahl ins Land kamen. Und trotzdem sei es jedes Mal gelungen, die eigene Kultur zu bewahren - wenn auch mit Veränderungen.

Nach Sturmschäden finden 1946 rund 500 Vertriebene in Grafrath Unterkünfte. (Foto: Gemeindearchiv Grafrath/oh)

Nach 1945 schufen die Kommunalbehörden so etwas wie eine Flüchtlingsinfrastruktur, um das Problem der Unterbringung der vielen Menschen zu bewältigen. Der Landkreis verfügte über einen Flüchtlingskommissar - dessen Amt später in das eines Kreisbeauftragten für das Flüchtlingswesen umbenannt wurde - und ein eigenes, 1949 mit elf Mitarbeitern ausgestattetes Amt für Flüchtlingsangelegenheiten. Dem Flüchtlingskommissar waren Flüchtlingsobmänner der Kommunen zur Seite gestellt. Der Leiter des Flüchtlingsamtes war auch Chef des Kreiswohnungsamts. Dieses bewirtschaftete den Wohnraum und erteilte Zuzugs- und Umzugsgenehmigungen. Und es konnte Wohnraum zwangsbeschlagnahmen und über Zwangseinweisungen über einzelne Zimmer verfügen. Vor allem diese Befugnisse zogen immer wieder Konflikte nach sich, sowohl mit den Kommunen als auch mit Haus- und Wohnungseigentümern.

Vergleichbar ist die Situation der Kommunen in der Nachkriegszeit und jetzt in einem Punkt. Sie mussten in kurzer Zeit viele Menschen aufnehmen. Die meisten der Heimatvertriebenen wurden nicht auf Massenquartiere oder Turnhallen verteilt. Sie kamen relativ schnell in Privathäusern unter, in denen der Kommissar für das Flüchtlingswesen für die Stadt und den Landkreis Fürstenfeldbruck Zimmer oder Wohnungen oft samt Inventar beschlagnahmt hatte. Reibungslos verlief das nicht, wer versuchte, einer Einweisung durch die Aufnahme genehmer Untermieter zuvorzukommen, musste mit einer Geldbuße rechnen. Es gab "Auffang-" beziehungsweise "Durchschleusungslager". Eine sogenannte fliegende Kolonne der "Wohnungserfassungskommission" beschlagnahmte allein im April 1947 im Landkreis 772 Räume, die mit 1454 Personen belegt werden sollten. In der Stadt Fürstenfeldbruck war Ende 1945 jeder Wohnraum mit 1,3 Personen belegt. Fast 11 000 Einwohner standen in 2204 Wohnungen 8548 Wohnräume zur Verfügung. Laut dem Jahresbericht der Militärregierung lebten 1945/1946, also in der Zeit des größten Zustroms an Vertriebenen, in jedem Wohnraum im Landkreis statistisch gesehen 2,1 Personen.

Viele der von den Nationalsozialisten für Fremdarbeiter errichteten Baracken waren nicht frei, weil sie mit Displaced Persons belegt waren. Allerdings wohnten gerade in den ersten Nachkriegsjahren Flüchtlinge, wie jetzt auch, schon in Turnhallen. In Beschlag genommen wurden damals auch Kindergärten und Schulen. Der Unterricht fiel dann für eine Zeit ganz aus oder es gab Schichtunterricht. Den Heimatvertriebenen wurden vor allem Wohnungen in Privathäusern oder einzelne Zimmer mit Küchenbenutzung zugewiesen. Und es war üblich, Wohnraum zu beschlagnahmen, falls es keine andere Unterbringungsmöglichkeit gab. Gerade weil Massenquartiere die Ausnahme waren, trug die Verteilung auf die Kreisstadt und die Kommunen zur schnellen Integration der Neuankömmlinge bei. Obwohl sich die Vertriebenen als "Vogelfreie", "Flüchtlings-Habe-Nichts" oder "Zigeuner" beschimpfen lassen mussten und es zu Schikanen und Tätlichkeiten kam, ist nach den Recherchen von Angelika Fox eine "generell ablehnende Haltung der Einheimischen nicht festzustellen". Die Beschwerde einer Flüchtlingsfrau aus Überacker über ihre Mitbewohner, die ans Innenministerium schrieb "Da wir ein rasches Ende dem langsamen zu Tode quälen vorziehen, bitten wir um unsere sofortige Vergasung", ist wohl die Ausnahme.

Während Asylbewerber in der ersten Zeit nach ihrer Ankunft überhaupt nicht arbeiten dürfen, war das für Vertriebene im Landkreis überlebensnotwendig, da sie überhaupt keine finanzielle keine Unterstützung erhielten. Zudem wurden sie als Arbeitskräfte dringend gebraucht. In dem noch bäuerlich geprägten Landkreis waren Frauen und Kinder auf den Höfen ein willkommener Ersatz für die Zwangsarbeiter. Den meisten der Heimatvertriebenen blieb nach der Ankunft im Landkreis oft nichts anderes übrig, als eine berufsfremde Beschäftigung aufzunehmen und den damit verbundenen sozialen Abstieg zu akzeptieren. Nur 15 bis 20 Prozent der Vertriebene im Landkreis galten nach den Recherchen von Angelika Fox als arbeitsfähig. Allerdings erlebte der Landkreis vor allem mit den für ihren Gewerbefleiß bekannten Sudetendeutschen und Schlesiern eine Phase von Gewerbeneugründungen. Das Möbelgeschäft Grollmus in Germering ist eine solche Neugründung.

© SZ vom 07.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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