Fürstenfeldbruck:Der Schritt aus der Anonymität

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Die Bruckerin Susan Rodriguez ist alleinerziehend. Ihre Tochter hat in den ersten Lebensjahren zweimal den Krebs besiegt. Seitdem ist die 15-Jährige in ihrer Entwicklung verzögert. Und ihre Mutter schreibt darüber in ihrem Internettagebuch

Von Ariane Lindenbach, Fürstenfeldbruck

Lucie-Ann ist ein Wunschkind. "Schon bevor ich ihren Papa kennen gelernt habe, war für mich klar: Ich kriege ein Mädchen, das heißt Lucie-Ann", erzählt ihre Mutter, Susan Rodriguez. Dass Lucie-Ann inzwischen 15 Jahre alt ist und die achte Stufe der Cäcilien-Förderschule in Fürstenfeldbruck besuchen kann, ist allerdings ein kleines Wunder. Denn die ersten Jahre ihres Lebens verbrachte das Mädchen fast ausschließlich auf Intensivstationen, wo sie um ihr Leben rang. Zweimal wurde bei ihr ein Gehirntumor festgestellt. Zweimal hat sie ihn überwunden. Geblieben ist bis heute eine Entwicklungsverzögerung bei der 15-Jährigen. Für Susan Rodriguez, die Lucie-Ann alleine erzieht, ist jeder Tag mit ihrer Tochter ein Geschenk. "Ich sage immer, wir sind glücklich behindert", erklärt die 51-Jährige aus Fürstenfeldbruck, die seit ein paar Monaten wieder in Teilzeit arbeitet und seitdem auch unter ihrem richtigen Namen bloggt. Mit ihrer Geschichte will sie anderen Frauen in einer ähnlichen Situation Mut machen.

Nach wie vor ist Lucie-Ann in ihrer Entwicklung verzögert. Nachts hat das etwas schlaksige und jünger wirkende Mädchen gelegentlich Anfälle, oft auch in Verbindung mit Atemaussetzern. Das körperliche Wohlbefinden von Susan Rodriguez' Tochter scheint auch abhängig von psychischen Einflüssen. So gibt es wohl Faktoren, die ihren Zustand verbessern. Wenn das Mädchen Kontakt zu Hunden hat, "dann blüht Lucie-Ann auf", hat ihre Mutter festgestellt. Sie sei einfach deutlich ruhiger und entspannter. Weil Rodriguez schon bei mehreren Begegnungen - zuletzt bei einem Spitz, den ihre Betreuerin donnerstags mitbringt - den positiven Einfluss auf ihre Tochter erlebt hat, möchte sie ihr einen Hund schenken. Nur fehlt ihr das Geld für die Grundausstattung, für das Futter und für den Tierarzt. Der Adventskalender will mit einem Zuschuss helfen. Das neue Familienmitglied würde seinen Schlafplatz neben Lucie-Anns Bett haben, dort wo jetzt noch eine Kommode in dem schmalen Zimmer steht. Das Tier könnte über den Schlaf des Kindes wachen, auf nächtliche Atemaussetzer achten und Alarm schlagen.

Susan Rodriguez hat in den letzten 15, 16 Jahren viel erlebt. Die gelernte Bürokauffrau verliebte sich, wurde schwanger, heiratete und zog nach Würzburg. "Der Start in die Ehe war schon unglücklich." Kaum in Würzburg habe sie von Liebschaften des Vaters während der Schwangerschaft erfahren, erzählt sie gelassen. Was ihr heute sichtlich mehr zu schaffen macht, sind die Sorgen um Lucie-Ann. "Sie sollte eine Hausgeburt sein und kam als Notoperation zur Welt." Das Baby kam in den Brutkasten, sie sah es erst nach drei Tagen. Wenige Wochen nach der Geburt kam Lucie-Ann auf die Intensivstation. Dann die Diagnose: Hirntumor.

Zweimal hat die Bruckerin, die sich bald von ihrem Mann trennte und zurück in die Kreisstadt zog, wo auch ihre Mutter lebt, diese niederschmetternde Diagnose für ihre Tochter erhalten. Zweimal durchlebte sie die ganze zermürbende Behandlung mit Operation, Chemotherapie, Bestrahlungen. "Die ganze Konzentration lag auf meiner Tochter. Wir waren durchschnittlich von 30 Tagen 25 in der Klinik."

Seit neun Jahren hat Lucie-Ann den Krebs überwunden. Geblieben sind die regelmäßigen Kontrolluntersuchungen zweimal jährlich. Und die Entwicklungsverzögerungen, durch die sie mehr Aufmerksamkeit braucht. Doch inzwischen ist sie bis 17 Uhr in der Tagesstätte, und Susan Rodriguez wollte wieder arbeiten. "Ich wollte nie von Hartz IV leben", sagt sie.

Seit August arbeitet die 51-Jährige für 25 Stunden in der Woche als Büroleiterin des Studienkreises. Dennoch reicht ihr Einkommen noch nicht, um den Lebensunterhalt für sich und ihre Tochter alleine finanzieren zu können. Sie gehört zu den Aufstockern, jenen Menschen, die zwar arbeiten, aber vom Verdienst nicht leben können und deshalb den Betrag bis zum Existenzminimum "aufgestockt" bekommen. Aus diesem Status will Rodriguez wieder herauskommen, sobald sie ihre Tochter gut versorgt weiß. Ein Hund würde Lucie-Anns Situation verbessern. Ein vom SZ-Adventskalender finanzierter Hund könnte also die Situation von Susan Rodriguez, ihrer Tochter Lucie-Ann und ihrer Mutter verbessern, die nur ein paar Häuser entfernt wohnt und sich am späten Nachmittag oft um ihre Enkelin kümmert.

Auch wenn das selbst ernannte "Münchner Kindl" Susan Rodriguez nach wie vor finanziell nicht gerade begünstigt ist, ist die Geschichte der Fürstenfeldbruckerin dennoch eine Mutmachgeschichte. Eine Geschichte, die belegt, dass man sich mit seinen Problemen, Ängsten und Sorgen lieber nicht alleine im stillen Kämmerlein verkriecht. Sondern dass alles viel leichter wird, wenn man sich hinauswagt, offensiv mit seinen Schwierigkeiten umgeht und sich Hilfe holt. "Seitdem ich wieder einen Job habe, hat sich mein Leben um 360 Grad verändert", strahlt die Bruckerin.

"Man soll sich nicht schämen, sondern bitte herkommen", ergänzt Claudia Baubkus. Die Leiterin des Jobcenters führt aus, dass es unterschiedliche Fördermöglichkeiten gibt und es im Münchner Speckgürtel überhaupt keine Schande ist, wenn man auf Unterstützung vom Amt angewiesen ist. Im Fall von Susan Rodriguez half das Jobcenter zunächst, den Kindsvater zum regelmäßigen Zahlen des Unterhalts zu bewegen. "Das ist der Klassiker", die meisten Väter müssten mehrfach angeschrieben werden, bevor sie verinnerlicht hätten, dass sie von Gesetz wegen dazu verpflichtet sind, für ihren Nachwuchs zu sorgen, sagt Baubkus. Im Fall Rodriguez ist das Thema abgehandelt. Und Lucie-Ann sieht ihren Vater regelmäßig, der inzwischen eine andere Familie gegründet hat.

Auch ihren neuen Job im Studienkreis hat Rodriguez dem Jobcenter zu verdanken. Über ein Förderprogramm für Langzeitarbeitslose, bei dem die Behörde für einen gewissen Zeitraum einen Teil des Lohns zahlt, hat die gelernte Bürokauffrau mit dem Hang zum Kreativsein ihre neue Beschäftigung bekommen. Wie die Bruckerin erläutert, bedeutet ihr die Arbeit weit mehr als nur ein Stück Unabhängigkeit vom Jobcenter. Neben dem Kontakt zu anderen Menschen, einem geregelten Tagesablauf sowie Wertschätzung beginne sie nun auch wieder ein Leben als Frau zu führen, nicht nur als Mutter.

Dass Rodriguez so selbstbewusst ist, hat sie ebenfalls ihrem Job zu verdanken. Nachdem sie im Studienkreis ihre Arbeit begonnen hatte, wagte sie einen großen Schritt hinaus aus der Anonymität, die sie als Leni Graf in ihrem Internet-Tagebuch über das Leben als Alleinerziehende mit einem behinderten Kind über sieben Jahre gewahrt hatte, hin zu ihrem neuen Blog, mit richtigem Namen "Susan Rodriguez - Alleinerziehend mit Handicap".

© SZ vom 17.12.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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