Milch:Billiger als Mineralwasser

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Beides beim AEZ im Angebot. Rechts die Ja-Vollmilch (46 Cent), links die Unser-Land-Bio-Milch (1,49 Cent) (Foto: Salger/oh)

Strategien gegen den Preisverfall: Der Einzelhandel setzt auf den Verbraucher, Experten auf Tierschutzauflagen oder mehr Selbstvermarktung

Von Stefan Salger, Fürstenfeldbruck

Für einen Liter italienisches Mineralwasser müssen Kunden im Vergleich zu einem Liter Milch mehr als das Doppelte hinblättern. Das liegt nicht an der Preisexplosion von Mineralwasser, sondern am Verfall des Milchpreises.

Besuch im Citypoint bei AEZ und Aldi am Freitag: Der Liter fettarme Milch beim Discounter kostet 42 Cent, die Vollmilchvariante 46 Cent. Exakt gleich viel zahlt man gegenüber im AEZ für die entsprechenden Produkte der Rewe-Handelsmarke "Ja". In den Regalen des AEZ steht freilich noch ein gutes Dutzend anderer Milchmarken: von Bergbauernmilch und Weihenstephaner bis zur Brucker Land Vollmilch Bio. Letztere freilich kostet 1,49 Euro. Biobauern leiden weit weniger unter dem Verfall der Milchpreise. Gleichwohl tragen nur 2,3 Prozent der in Deutschland erzeugten Milch das Biosiegel.

Mehr als einen Euro zahlen Kunden auch für die Milch von Berchtesgadener Land. Das Besondere an dieser Molkerei: Sie gehört 1800 Milchbauern, die sich zur Genossenschaft zusammengetan haben. Wer an Berchtesgadener Land liefert, bekommt etwa 40 Cent und damit deutlich mehr als andere Milchbauern, die laut Bundesinstitut für Ernährungswirtschaft im Schnitt nur 15,3 Cent pro Liter erhalten. Könnte man die Billigmarken mit ihren ruinös niedrigen Preisen aus den Regalen verbannen? Dann würden viele Kunden wohl zum Konkurrenten nebenan laufen. Drei von vier Kunden greifen einer bundesweiten Erhebung zufolge zur billigsten Variante. AEZ-Chef Udo Klotz lässt keinen Zweifel daran, das er den Landwirten einen fairen Preis zugestehen will. "Bevormunden" wolle man den Kunden aber nicht. Am liebsten würde Klotz viel mehr Brucker-Land-, Unser-Land- oder andere fair gehandelte Produkte verkaufen. Das aber habe der Verbraucher bei jedem Einkauf in der Hand. Die Preisentwicklung nach unten gebe es nicht nur bei Milch, sondern auch bei Joghurt und Käse oder auch Eiern oder Hühnerfleisch. Die Deutschen seien "preissensibler" als andere Nationen. Folge: Hierzulande zahlt man für Lebensmittel die niedrigsten Preise in ganz Europa.

Könnten Landwirte die Vermarktung stärker selbst in die Hand nehmen? Im eigenen Hofladen - oder per Automat wäre das möglich. In den zurückliegenden Monaten wurden einige Milchautomaten aufgestellt, so wie im März auf dem Puchheimer Spieglhof. Dort liegen die Preise deutlich höher und Molkerei und Handel verdienen nicht mit. Allerdings muss der Landwirt erst einmal bis zu 10 000 Euro investieren, und gerade im ländlichen Bereich kommen oft gar nicht genügend Kunden vorbei. Zudem weist Ursula Hudson, Bundesvorsitzende der Organisation Slow Food, auf die strengen Regeln für den Direktverkauf von Milch hin. In Ländern wie Italien und Slowenien dürften Milchautomaten jenseits des Hofs aufgestellt werden, in Deutschland nicht. Ins gleiche Horn stößt der Brucker Tierarzt Richard Bartels, Leiter von Slow Food Fünfseenland: "Ich denke, hier wurden unter dem Deckmäntelchen der Hygiene - der Verbraucher liebt es ja hygienisch, das Produkt ist ihm leider zu oft völlig wurscht - Standards erlassen, die ich auch für völlig überzogen halte. Und das nicht nur bei der Milch." Gesundheitlich relevante Probleme entstünden viel häufiger in der industriellen Produktion. Bartels verweist hier auf den aktuellen Fall der Geretsrieder Großmetzgerei Sieber. Der Tierarzt hat den Verdacht, dass vor allem die Industrielobby hinter den strengen Auflagen steckt, um die lästige Konkurrenz durch Direktvermarkter einzudämmen. Wohl auch deshalb gebe es bislang lediglich vier Milchtankstellen im Landkreis.

Der Brucker Tierarzt verfolgt die Entwicklung bei der Agrarproduktion mit großer Sorge, stellt sein Verein doch die Wertigkeit von Lebensmitteln in den Mittelpunkt: "Um eine gewollte Überproduktion zu befeuern, wird Milch heute unter Bedingungen erzeugt, die mit artgerecht nichts mehr zu tun haben." Bartels kritisiert die Haltung auf Spaltböden: "25 Prozent aller Kühe gehen offiziell wegen Klauen- oder Beinproblemen vorzeitig zum Schlachter." Völlig überflüssig sei zudem die verbreitete Fütterung auf Höchstleistung: "Das Magensystem der Rinder braucht kein eiweißreiches Kraftfutter auf Sojabasis, das für Wiederkäuer unphysiologisch ist." Unsinnig sind aus seiner Sicht auch der massive Einsatz von Antibiotika und anderer Medikamente sowie fruchtbarkeitssteigernde Maßnahmen. "Heute gelten Kühe im Durchschnitt mit etwas mehr als fünf Jahren als verbraucht und gehen vorzeitig zum Schlachter." Bartels Vorschläge: Weniger Kraftfutter, am besten hofeigenes Raufutter. Dadurch würde die Jahresleistung pro Kuh auf 5000 Kilogramm Milch sinken - einer EU-Statistik zufolge liegt sie in Deutschland zurzeit bei 7620 Kilogramm. Die Nachfrage in Deutschland könne damit gestillt werden - "und die Milch würde vielleicht statt Rohstoff wieder als Lebensmittel wahrgenommen." Um diese Zäsur zu erreichen, müssten aber alle Akteure an einem Strang ziehen: Bauern, Politiker und Verbraucher. Danach freilich sieht es zurzeit nicht aus.

© SZ vom 04.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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