Eichenau:Der Bücherdoktor

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Alfred Stemp ist Experte für alte Bücher. Bei der bayerischen Landesausstellung ist er für alle gezeigten Exemplare zuständig

Von Andreas Ostermeier, Eichenau

Alte und wertvolle Bücher hat Alfred Stemp schon viele in der Hand gehabt. In den nächsten Wochen kommt der Eichenauer mit einer Luther-Bibel sowie mehreren Druckschriften des Reformators in Berührung. Zu den wertvollen Büchern, mit denen er umgehen wird, gehört die Spalatin-Chronik, eine Geschichte Sachsens und Thüringens, die von einem Vertrauten des Reformators um 1517 verfasst worden ist. Alfred Stemp und auch sein Sohn Dominik haben eine wichtige Funktion beim Aufbau der bayerischen Landesausstellung auf der Veste Coburg. Sie kümmern sich um sämtliche Bücher, die in der Ausstellung über die Zeit Luthers zu sehen sein werden. Sie fertigen Buchstützen, bauen Vitrinen und begutachten den Zustand der Bücher zu Beginn und am Ende der Ausstellungszeit. Die Schau in Coburg ist nicht die erste für die Stemps. Schon während der Ausstellung über Bier in Bayern im vergangenen Jahr und bei anderen Museumsschauen haben sie sich um die schriftlichen Dokumente gekümmert.

Für diese Arbeit bringt der 60-jährige Alfred Stemp viel Erfahrung mit. Denn er bindet nicht nur neue Bücher, sondern restauriert auch seit mehr als 30 Jahren beschädigte. Dabei hat er viel Erfahrung gesammelt, die er mittlerweile an seinen 32 Jahre alten Sohn weitergibt. Alfred Stemp ist so etwas wie ein Bücherdoktor, seine Praxis liegt in einem Wohnhaus in Eichenau. In den Behandlungszimmern stehen Buchpressen und Bücherstapel, finden sich Ziffern und Lettern aus Metall, Pinsel in verschiedenen Größen sowie eine Wanne, in der Buchseiten Reinigungsbäder nehmen. Zentrales Einrichtungsstück der Praxis ist ein riesiger Tisch, sozusagen der Operationstisch. Auf dem werden defekte Buchrücken geklebt, eingerissene Seiten erneuert oder Ledereinbände wieder in Schuss gebracht.

Zu den prominentesten Patienten, die auf dem großen Tisch lagen, gehörten Hunderte von Bänden aus der Anna-Amalia-Bibliothek in Weimar. Im Herbst 2004 brach ein Feuer in der Rokoko-Bibliothek aus und zerstörte 50 000 Bücher. Mehr als 100 000 weitere wurden durch den Brand und seine Bekämpfung beschädigt, vor allem durch das Löschwasser. Zeigt Stemp Fotos von den Jahrhunderte alten und in Mitleidenschaft gezogenen Büchern, muss bibliophilen Menschen das Herz bluten: gewellte Seiten, aufgequollene Einbände, Buchrücken, die durch die Hitze des Feuers geschrumpft sind. Stemp hatte vieler dieser Bücher in seinen Werkstatträumen und schließlich auf dem großen Tisch liegen. Er restaurierte sie mit Erfolg. Heute stehen sie wieder in den Regalen der Rokoko-Bibliothek. Für die Restaurierungsarbeiten entwickelte Stemp sogar eigens ein Werkzeug, mit dem sich die Einbände bearbeiten ließen. Das von anderen verwendete Skalpell hatte für den Eichenauer zu viele Nachteile. So ließen sich die Schnitte nicht exakt führen, außerdem seien sie zu tief gegangen, erklärt der Eichenauer.

Der Bücherdoktor hat also eine Menge Therapieerfahrung. Doch Buchrestaurierungen für Bibliotheken macht er momentan keine mehr. Das rechne sich immer weniger, erzählt Alfred Stemp, denn staatliche Aufträge würden meist schlecht bezahlt. Seinen Worten nach liegt das an der Konkurrenz aus anderen Ländern, die mit viel niedrigeren Löhnen und Materialkosten kalkuliert und aus diesen Gründen billigere Angebote machen kann. Diesen Unterbietungswettbewerb will der 60-Jährige nicht mitmachen. Kritik übt er auch an Berufskollegen im Inland, die dieses Dumping mitmachen und zu Preisen arbeiten, von denen sie auf Dauer nicht leben können.

Eine Alternative zu den Aufträgen von Museen und Bibliotheken bieten die Aufträge von Privatleuten. Ein Mann aus Biburg bringt zwei alte Bibeln vorbei. Die Bücher stammen aus Familienbesitz. Auf leeren Seiten am Ende der Bücher sind die Eigentümer aus zwei Jahrhunderten eingetragen. Nun soll die Enkelin des Besitzers eine der Bibeln zur Konfirmation geschenkt bekommen. Die beiden Bücher haben allerdings sichtlich unter Feuchtigkeit gelitten. Stemp blättert eines auf. Der Deckel hat sich gewellt, Stockflecken zeigen den Zerfallsprozess der Seiten, Schimmel hat sich angesetzt. Der ernähre sich von dem Papier und dem Leim, mit dem der Einband verklebt worden ist, erklärt Stemp. Frühere Leime bestanden aus Naturprodukten. Meist habe es sich um Weizenstärke gehandelt, und die bietet dem Schimmel eine optimale Nährbasis.

Büchern schaden indes nicht nur Feuchtigkeit und Schimmel. Auch die Sonne kann zum Feind eines alten Bandes werden. Ein Anschauungsobjekt für die schädlichen Auswirkungen von Sonnenlicht zeigt Stemp. Der Ledereinband des Buches ist ausgebleicht, zudem schadet Licht auch dem Papier sowie den Farben von Bildern oder Malereien. Ein weiterer Feind alter Bücher ist der Holzwurm. An einer großen alten Bibel, die Stemp ebenfalls gerade restauriert, hat der Käfer Spuren hinterlassen. Der Buchdeckel aus Buchenholz ist übersät mit kleinsten Löchern. Die entstehen, wenn sich die Larven des Holzwurms auf dem Weg in die Freiheit durch das Holz fressen. Obwohl Buchenholz den Käfern besonders schmeckt, wurde es früher gerne als Einbandmaterial verwendet, weil es billiger war als beispielsweise das härtere Eichenholz, das die Käfer verschmähen.

Doch alte Bücher wurden nicht nur in Leder eingebunden, sondern auch in Pergament. Alfred Stemp öffnet eine Schublade - und rasch riecht es im Raum nach Ziege. Stemp holt die getrocknete und starre Haut einer Ziege hervor. Würde sich ein Kunde einen neuen Einband für ein kleines Buch wünschen, dann könnte Stemp die Ziegenhaut verwenden. Allerdings sind neue Einbände seinen Worten nach bei den Besitzern alter Bücher aus Deutschland nicht besonders gefragt. Ganz anders in der Schweiz. Dort gebe es viele Büchersammler, die einen neuen und einmaligen Einband schätzen.

All das und noch viel mehr ist von den Stemps über die Herstellung alter Bücher zu erfahren. Ihr Wissen und ihre handwerklichen Fähigkeiten seien von den Weimarer Auftraggebern auch ausdrücklich gelobt worden, sagt Alfred Stemp. Dennoch reicht es nicht, um vom Restaurieren alter Schriften leben zu können. Weil diese Kunstfertigkeit nicht mehr einträglich genug ist, mussten sich die Eichenauer Buchbindermeister nach etwas Neuem umsehen. Sie haben sich auf die Mitarbeit an Ausstellungen spezialisiert. Dafür haben sich Vater und Sohn Kenntnisse und Fertigkeiten über den Bau von Vitrinen und Buchstützen angeeignet. Das ist nötig, um in Coburg für die Präsentation von Büchern und Textdokumenten der Ausstellung zum Luther-Jahr zuständig sein zu können.

Alfred Stemp zeigt Unterlagen. In denen steht, in welchem Winkel die alten Bücher aufgeklappt sein dürfen, damit ihr Einband keinen Schaden nimmt. Das müssen er und sein Sohn bei der Fertigung der Buchstützen berücksichtigen. Ebenso haben die Eigentümer der Ausstellungsstücke vermerkt, wie viel Licht den Seiten zuzumuten ist, und wann eine andere Seite aufgeblättert werden muss. Auch das machen die Stemps. Sie öffnen also nach ein paar Ausstellungswochen die Vitrinen und schlagen in den wertvollen Büchern neue Seiten auf. Manche Bücher werden gar nur eine Zeitlang gezeigt. Dann wandern sie zurück ins Magazin. Alfred und Dominik Stemp fertigen in diesen Fällen ein Replikat der gezeigten Seite an, das dann anstelle des Originals präsentiert wird.

Mehrere Wochen am Stück sind die Eichenauer mit einer Ausstellung wie der in Coburg beschäftigt. Da die Landesausstellung im Mai beginnt, müssen die beiden Bibeln des Kunden aus Biburg schnell bearbeitet werden. Dominik Stemp setzt dafür maximal zwei Arbeitstage an. Dann sind die Familienstücke von Schimmel und Staub befreit, der Buchdeckel geglättet und repariert. Werden die Bibeln richtig aufbewahrt, also nicht etwa in einen feuchten Keller gestellt, können sie noch lange Zeit verwendet und eines Tages als Geschenk dienen oder an die nächste Generation vererbt werden.

© SZ vom 22.04.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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