Aussterbendes Hobby:Einer der letzten Tauberer

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Peter Sigl ist Vorsitzender des Vereins Eilbote Moorenweis und der Reisevereinigung München-Dachau. Bereits als Kind entdeckte der Rentner die Brieftauben als großes Hobby und lernte seither viele neue Orte und Gleichgesinnte kennen. Nur Nachwuchs ist nicht mehr zu finden

Von Stefan Salger, Moorenweis

Wo heute reinste Idylle ist, da herrscht vor ein paar Jahren Aufregung und Angst. Es ist ein Abend im April. Schönes Wetter, ein paar Wolken am Himmel. Peter Sigl kommt in den Garten hinter seinem Haus in Römertshofen. Er ist Vorsitzender des Brieftaubenklubs Eilbote Moorenweis. An jenem Tag, der ihm bis heute nicht aus dem Kopf geht, bekommen seine Tauben ungebetenen Besuch. Besuch vom größten Feind: Der sticht unvermittelt aus dem Himmel: ein Habicht. Taucht ein solcher Raubvogel über den Taubenschlägen auf, dann herrscht blanke Panik. Nicht nur bei den Tauben. Auch beim Besitzer. Denn dann geht es um Leben und Tod. Tauben sind ausdauernde Vögel, aber gegen einen Habicht ziehen sie immer den Kürzeren. Bevor Sigl eingreifen kann, kommt es zur wilden Hatz zwischen dem Apfelbaum und dem Haus. In ihrer Todesangst übersieht die gejagte Taube den Wintergarten und prallt mit voller Wucht gegen die Fensterscheibe. Dabei verliert sie ein Auge. Sie überlebt. Aber auf große Reise gehen und Preise erfliegen kann sie nicht mehr. Für die Zucht ist sie immer noch wertvoll. Und wäre auch dies nicht so, würde sie dennoch ihr Gnadenbrot bekommen. Denn die Brieftauben sind für den 64-Jährigen nicht Mittel zum Zweck und nicht nur Ausdauersportler, die Pokale und Urkunden bringen. Seine 130 Vögel gehören quasi zur Familie. Er kennt sie alle, kann sie anhand des Gefieders und des Flügelschlags auseinanderhalten.

In einem besonders schwarzen Jahr holte sich der Habicht von Sigl 34 Tauben. Erst vor ein paar Wochen stieg Sigl aufs Dach des Taubenschlags und holte ein von scharfen Krallen verletztes Tier herunter. Mit einer Nadel und einem Spezialfaden nähte er die klaffende Wunde des Schimmel-Weibchens zusammen. Seine Frau Monika schüttelt schon mal den Kopf, wenn Peter Sigl frühmorgens aufsteht und erst einmal verschwindet im Zuchttaubenschlag oder im Jungtaubenschlag oder im Weibchenschlag oder im Preisschlag - allesamt selbst gebaut auf dem Grundstück hinter der Möbeltischlerei des Bruders Reinhard. Dort macht er sauber, füttert, spricht mit ruhiger Stimme mit seinen gurrenden Schützlingen, nimmt das eine oder andere handzahme Tier aus einer offenen Box, streichelt übers Gefieder und sieht nach, wie weit das Gelege schon ist. Oder er blättert im Keller vor dem Wandregal voller Trophäen in den Ordnern mit Fotos und Listen oder im wöchentlich erscheinenden Fachmagazin "Die Brieftaube", in dem Termine, Tipps, Sieger, entflogene Tauben, Wettbewerbsbedingungen und alles Wichtige aus der Szene veröffentlicht wird.

Gegen die Pokale und Urkunden im Wohnzimmer hätte seine Frau Monika gar nichts. Aber diese endlosen Telefonate. So wie an diesem Samstag, der nach wochenlanger Hitzeperiode wieder regnerisch ist. An die 2000 Jungtauben der Reisevereinigung 04 München-Dachau, die ebenfalls Peter Sigl zu ihrem Vorsitzenden gewählt hat, sind nach Ulm geschickt worden. Von dort sollen sie möglichst schnell heimfliegen. Doch bei dichter Wolkendecke können die Tauben nicht starten. "Wird wohl auf morgen verschoben werden", brummt Sigl. Er greift zum Telefon. Das ist es, was seine Frau manchmal schon nervt. Dauergespräche mit dem Flugleiter in Ulm, mit Preislistenverrechnern, mit dem Fahrer des Kabinenexpresses, auf dessen Ladeflächen die 90 Einzelboxen montiert sind, mit Züchtern, mit Vereinsvorsitzenden. Brieftauben: das ist ein zeitraubendes Hobby. Ein Hobby, das täglich vier bis sechs Stunden verschlingt und kaum Raum für Urlaub lässt oder für ein anderes Hobby. Weil der gelernte Bäcker und Konditor, der viele Jahre als Unterkunftsverwalter auf dem Fliegerhorst gearbeitet hat, pensioniert ist, bleibt immerhin etwas Luft fürs Amt des Zweiten Vorsitzenden der Garten- und Blumenfreunde.

Viele Schultern, auf die man die Arbeit verteilen könnte, gibt es im Brieftaubenverein Eilbote Moorenweis nicht mehr. Insgesamt hat er noch neun Mitglieder, die alle selbst Brieftauben halten. Aktive Reiseteilnehmer sind lediglich Sigl und der 82 Jahre alte Franz Muff aus Kottgeisering. "Früher, da waren wir 40 Züchter im Verein, davon waren 15 aktiv", erzählt Sigl. Früher. Da waren die Mitglieder noch nicht so in die Jahre gekommen, hatten noch nicht die Probleme mit den Bronchien, andere gesundheitliche Probleme, familiäre Probleme, Probleme mit Vermietern oder Nachbarn. Peter Sigl hat all das nicht und kann sich kein Leben ohne Brieftauben vorstellen. "Ich bin ein hundertprozentiger Tauberer, und das soll auch so bleiben."

Aber die Jugend fehlt, daran ändert auch der Mitgliedsbeitrag von gerade mal fünf Euro im Jahr nichts. Die hat kaum eine Ader für die Zucht und die Pflege und diesen arbeitsaufwendigen Sport. "Was die junge Generation sucht, ist viel Fun, wenig Verein", schreibt der Freizeitforscher Horst Opaschowski in dem Buch "Deutschland 2020: wie wir morgen leben". "Da geht es allen Taubenvereinen gleich", hat vor ein paar Jahren auch Josef Arth bestätigt, der Vorsitzende des Germeringer Brieftaubenvereins La Paloma, bei dem ein ganzer Vorstand einen einzigen verbliebenen Aktiven umhegte. "Früher waren die Brieftauben noch so etwas wie der Schlüssel zur großen weiten Welt da draußen." Da gab es noch keine Computer, Mobiltelefone und unzähligen Fernsehprogramme.

Vor zwei Jahren haben sie in Moorenweis das 45-jährige Bestehen des Vereins gefeiert, der anfangs Maisachbote hieß und 15 aktive Mitglieder zählte. Sigl war ein Mann der ersten Stunde. Gründungsmitglied. Und bei der Feier im Vereinslokal Wörle, das mittlerweile auch dicht gemacht hat, blickten sie zurück - durchaus mit einer Prise Wehmut. Peter Sigl ließ sich bereits als Kind in den Bann der Brieftauben schlagen. Während sein Zwillingsbruder Hans auf dem Bolzplatz war, zimmerte er sich die ersten Taubenschläge und lernte dabei nebenbei auch etwas über die Startpunkte der Rückreise, die "Auflassorte". Es sind ja nicht nur die Tiere.

Es ist auch das Drumherum, das Gesellige, das ihm wichtig ist. Klar freut sich Peter Sigl darüber, dass er dieses Jahr erste Plätze bei den einjährigen Tauben und bei der Vogelmeisterschaft errungen hat sowie einen zweiten Platz bei der RV-Meisterschaft und einen Vierten bei der Weibchenmeisterschaft. Klar freut er sich über die Erfolge seines "As-Vogels", der Nummer 412, einem Nachkommen aus der Linie des Züchters Dirk van Dyck. Klar fiebert er der diesjährigen Siegesfeier entgegen, bei der er sich erstmals eine Goldmedaille um den Hals hängen darf - drei seiner Tauben, die Nummern 416, 573 und 229, haben sich am letzten Juliwochenende beim 600-Kilometer-Flug von Brüssel gegen 400 Mitbewerber durchgesetzt. Klar ist das ein Sahnehäubchen. Aber ebenso klar ist, dass für Peter Sigl der Spaß und das Gesellige im Mittelpunkt stehen und nicht die Erfolgsbilanz. Einmal im Jahr kommt man zur Hauptversammlung zusammen, dann wird gemeinsam gefachsimpelt. Peter Sigl hat die Hoffnung noch nicht aufgegeben, Vereinsnachwuchs zu finden. Sein Sohn kümmert sich immerhin schon um die Tauben, wenn er im Urlaub ist. Vor allem aber ruhen die Hoffnungen auf den Enkeln, den drei Jahre alten Zwillingen Magdalena und Benedikt. Die stehen oft gebannt vor den Taubenschlägen. So wie einst Peter Sigl.

© SZ vom 02.09.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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