Filmmusik:"Es muss nicht immer ein genormter Krimi sein"

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Es gab kein Drehbuch, nur ihre Kompositionen: Martina Eisenreich hat den Soundtrack für einen "Tatort" mit ungewöhnlicher Entstehungsgeschichte geschrieben. An diesem Sonntag läuft der Krimi aus Ludwigshafen im Ersten

Interview von Konstantin Schätz

Die Komponistin Martina Eisenreich hat bereits viele Filme mit ihrer Musik bereichert. Häufig hat sie dabei mit dem Regisseur Axel Ranisch zusammengearbeitet. In der Folge "Waldlust" der Kultserie "Tatort" erreicht ihre Zusammenarbeit nun den Höhepunkt. In einem Interview berichtet sie von dem außergewöhnlichen Projekt.

Frau Eisenreich, wo sehen Sie sich den Tatort, zu dem Sie die Filmmusik geschrieben haben, am Sonntag an?

Man hat mich zu mehreren Public Viewings eingeladen. Da ich auf meinem Schreibtisch noch ein Projekt liegen habe, bin ich leider noch gar nicht dazu gekommen, mir darüber Gedanken zu machen.

Es heißt, die Kommissare im Tatort haben nach Ihrer Musik ermittelt. Wie darf man sich das bitte vorstellen?

Der Regisseur Axel Ranisch hat bei mir eine Sinfonie in Auftrag gegeben. Als sie fertig war, haben sie angefangen zu drehen. Er hat den Schauspielern vor dem Dreh die Musik vorgespielt, damit sie sich atmosphärisch einstimmen können. Das Besondere ist, dass die Schauspieler das Drehbuch nicht kannten. Sie wussten nicht, wer der Mörder ist. Die Musik hat also die Schauspieler geleitet.

Die Schauspieler kannten das Drehbuch nicht?

Nein. Es gab einen kleinen Kreis im Team, der eine Drehbuchfassung hatte. Allerdings waren auch hier keine ausformulierten Dialoge. Diese Fassung war streng geheim. Die Schauspieler durften sie nicht lesen. Ihnen wurde jeden Tag nur ihr Blatt gegeben, auf dem stand, was passiert. Sie kannten die Geschichte aber nicht weiter als bis zu dem Zeitpunkt, an dem sie gerade waren. Das heißt, während ihrer eigenen schauspielerischen Ermittlungen haben sie selber mitgerätselt. Manchmal waren sie auch auf einer falschen Fährte. Diese Anspannung hat den Film auch bereichert.

Das muss doch auch für die Schauspieler spannend gewesen sein.

Ja, das ist auch der Vorteil daran, wenn man chronologisch drehen darf. Normalerweise wird der Drehplan ja nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten erstellt. Es werden je nach Ort und Schauspieler die Szenen abgedreht. Dadurch geht aber der Fluss der ganzen Geschichte verloren. Das Gesamtbild. In diesem Fall wurde aber das gesamte Ensemble in die schräge Kulisse des Schwarzwalds geworfen. Der ganze Fall wurde dann nach und nach abgearbeitet. Völlig chronologisch. Als ich die Schauspieler nach der letzten Drehnacht gesehen habe, hat richtige Katerstimmung geherrscht. Es war alles sehr real.

Dass die Musik so eine zentrale Rolle einnimmt, klingt ziemlich außergewöhnlich.

Ist es auch. So wie es bei diesem Tatort umgesetzt wurde, ist es mir bislang nicht untergekommen. Ich kenne es lediglich aus Filmen, in denen Ennio Morricone die Filmmusik geschrieben hat. Seine Musik wird am Set abgespielt, um beim Timing und der Dramaturgie zu helfen. Heutzutage kennt man das gar nicht mehr. Da passiert viel Arbeit in der Postproduktion. Es wird geschnitten und hinterher werden noch technische Effekte hinzugefügt.

Wie haben Sie sich auf die gewünschte Atmosphäre eingestellt?

Neben sehr intensiven Gesprächen mit dem Regisseur habe ich mich auch mit dem Setting auseinandergesetzt. Ich habe mir die Schneemassen angeschaut, den düsteren Wald und das alte Hotel, in dem der Tatort spielt. Das Hotel "Waldlust". Das habe ich anhand von Bildern und Berichten gemacht. Dieses verlassene Hotel ist einfach sehr atmosphärisch mit den ganzen leeren Zimmern und diesem trockengelegten Swimmingpool. Doch ich bin natürlich auch dem Programmentwurf des Regisseurs gefolgt.

Wie sieht denn so ein Programmentwurf aus?

Das ist eine ganze Seite musikalisches Programm. Wie in alten Zeiten als noch Richard Strauss Programmmusik gemacht hat. Da steht dann zum Beispiel drinnen: "das Grauen der Welt erwacht. Wittert, lauert, läuft, rennt und schnappt zu."

Das klingt sehr abstrakt.

Das sind vom Inhalt, der Atmosphäre und der Energie sehr klare Vorgaben. Dennoch ist man musikalisch völlig frei, wie man diese Eindrücke umsetzt. Das ist auch das besondere an diesem Projekt. Es gab danach keinen weiteren Revisionsschritt, keine Abstimmungen. Nachdem er mir vorgegeben hat, wie der Aufbau aussehen soll, hat er mich komponieren lassen. Das wurde dann eins zu eins genommen. Völlig autark geschriebene Musik. Es wurde übrigens nicht in einem Filmmusikstudio aufgenommen.

Sondern?

Die Musik dieser Tatort-Folge ist von der deutschen Staatsphilharmonie Rheinland Pfalz wie ein klassisches Konzert eingespielt worden. Das hat dann noch mal eine ganz andere Energie. Normalerweise bekommt jedes Instrument ein eigenes Mikrofon. Im Studio kann man dann gewisse Veränderungen vornehmen. Zum Beispiel die Lautstärke einzelner Instrumente anpassen. Auch mit dem Tempo und den Pausen hat man einen gewissen Spielraum. Das geht hier nicht. Hier hat ein Übertragungswagen des SWR das Orchester in der Philharmonie als Ganzes aufgenommen. Der Dirigent hat das Tempo und das Timing geformt. Die Aufnahme hat einen ganz organischen Orchesterklang, der nicht noch filmmusikalisch verfremdet wurde.

Hatten Sie beim Komponieren Bilder und Szenen im Kopf?

Ja, ich hatte ein Bild im Kopf. Vor allem die Stimmung im Schwarzwald und in dem verlassenen Hotel hat mich beflügelt.

Wie war es für Sie, als Sie den Tatort dann abgedreht gesehen haben?

Ich hatte gemischte Gefühle und das ist, denke ich, ganz normal. Es ist dem Medium Film geschuldet. Musik, aber auch Bücher machen je nach Fantasie einen großen Raum auf, in dem man sich frei bewegen darf. Film ist da einfach ein anderes Medium. Es führt dich durch die Geschichte. Es lenkt den Fokus. Eine spannende Erfahrung war dabei für mich, dass es dieses Mal nicht in meinen Händen lag, wie die Musik auf die Szene wirken wird. Oft hat man mit nachträglich komponierter Musik nur noch die Möglichkeit, eine Szene quasi einzufärben. Hier konnte ich völlig autarke Musik schreiben, die weit über begleitende Hintergrundmusik hinausgeht. Sie hat eine eigene Aussage, einen eigenen Aufbau, eine eigene Struktur. Es gibt Stellen, in denen die Musik wirklich freisteht und das verleiht dem Ganzen noch mal eine ganz andere Ebene.

Zum Beispiel?

In der Szene, in der man die Leiche sieht, steht die Sinfonie über den Bildern. Es ist keine dunkle, triste Musik zu hören. Sie ist in diesem Moment schön und euphorisch. Das macht die Sache eigentlich noch viel schlimmer. Es hat ein bisschen was von Tom Waits-Musik. Dieser bittersüße Beigeschmack.

Erwartet uns ein düsterer Tatort?

Ja, aber auch mit Momenten, die ein gewisses Augenzwinkern haben. Am stärksten sind aber eigentlich die Passagen, die darauf vorbereiten, dass es düster wird. Es sind helle und liebevolle Momente im Tatort.

Verraten Sie uns ein Beispiel?

Es gibt eine Tanzszene, in der eine Spieluhr in einem trockengelegten Schwimmbad aufgezogen wird. Nach und nach kommen dann Instrumente dazu. Erst das Cello und dann das Orchester. Das ist eine sehr liebevolle und fröhliche Szene. Es ist ein musikalischer Höhepunkt. Diese Passage wird im Laufe des Films wieder aufgegriffen und mit düsteren Szenen gemischt.

Sie haben ja schon mehrfach mit Axel Ranisch zusammengearbeitet. War das bislang der Höhepunkt Ihrer Zusammenarbeit?

Ja. Wir haben schon einiges zusammen gemacht und haben im Laufe der Zeit festgestellt, dass unser Austausch umso vollkommener wird, je früher er die Musik von mir bekommt. Man malt mit Musik nicht mehr an. Sie ist fester Bestandteil. So sind wir auch zusammen mit der Redakteurin Katharina Dufner bei der Idee für die Symphonie gelandet. Der Tatort hat sich sehr dafür angeboten, da er einfach sehr atmosphärisch war.

Es war also auch ein Experiment. Es gibt auch Kritiker, die experimentelle Tatorte nicht mögen. Was entgegnen Sie ihnen?

Ich finde es wichtig, dass auf einem Sendeplatz, der so populär ist, auch Platz für künstlerischen Ausdruck ist. Es muss doch nicht immer ein genormter Krimi dastehen. Man braucht Vielfalt und den Mut, das auszuprobieren.

Da würde Ihnen jetzt aber der ein oder andere Krimi-Fan widersprechen.

Es laufen genug glattgebügelte Krimis im Fernsehen. Wenn man alle Ecken und Kanten rausnimmt, verhindert man eben auch künstlerische Qualität. Natürlich gibt es Menschen, die dafür einfach nicht offen sind, aber ich denke, dass das Fernsehpublikum häufig auch unterschätzt wird.

Inwiefern unterschätzt?

Aus Angst, den Zuseher zu überfordern, verliert man leicht den Mut, etwas Unkonventionelles zu machen. So was kenne ich auch aus anderen Arbeiten. Aber wenn man die Sorge hat, dass sich der Fernsehzuschauer auch nur einen Gedanken zu viel machen könnte, dann wird aus Kunst schnell ein genormtes Handwerk. Es hat doch auch einen kulturellen Wert, wenn man über den Tatort diskutieren kann. Das funktioniert nicht mit glattgebügelten Krimis. Gerade mit besonderen Projekten erfüllt der Sender seinen kulturellen Auftrag. Das ist doch wichtig. Vor allem wenn es sich um eine Institution wie den Tatort handelt, der ein Stück weit Kulturgut geworden ist.

© SZ vom 03.03.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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