Asylbewerber:Begehrte Plätze

Lesezeit: 4 min

Die Berufsschule Erding erhöht die Klassengrößen für Flüchtlinge, kann aber trotzdem nicht alle schulpflichtigen Jugendlichen im Landkreis aufnehmen. Ein Besuch bei motivierten jungen Menschen, die ihre Chance nutzen wollen - und bei Lehrern, die ihnen dabei helfen

Von Sebastian Fischer, Erding

Der Name des Mannes will ihm einfach nicht einfallen. "Was mit G", sagt Ramin. Er steht in der Schreinerwerkstatt der Berufsschule Erding und versucht sich an das Arbeitsblatt aus dem Sozialkundeunterricht zu erinnern. Er tippt sich nervös grinsend mit dem Finger auf die Brust. Doch die Erinnerung kommt nicht. Gauck heißt der Bundespräsident.

Ramin stöhnt. Gauck, stimmt ja. Integration, heißt es, sei das wichtigste für junge Flüchtlinge wie Ramin, 18, aus Afghanistan, die in Deutschland eine Bleibeperspektive haben. Integration beginnt, wenn Menschen, die sich integrieren möchten, Perspektiven sehen. Und in der Berufsschule eröffnen sich Perspektiven, das könne man so sagen, findet Johannes Kestler. Er koordiniert hier den Unterricht für Flüchtlinge, er ist auch Ramins Sozialkundelehrer - und lächelt, während sein Schüler in seinem Gedächtnis vergeblich nach dem Namen des Bundespräsidenten kramt. Eine Ausbildung werde deshalb bestimmt nicht scheitern, oder daran, "ob man der oder die Werkbank sagt". Kestler, 41, wirkt zufrieden.

84 Asylbewerber besuchen die Berufsschule in sogenannten Berufsintegrationsklassen, in denen sie in der 10. Klasse zunächst in einem Vorbereitungsjahr vor allem Sprachkenntnisse vertiefen sollen, und in der 11. Klasse auf eine Ausbildung vorbereitet werden. In Erding gibt es fünf dieser im Freistaat insgesamt 440 Klassen, auf die das bayerische Kultusministerium sehr stolz ist. Für die es deutschlandweit gelobt wird, einerseits. 440 Klassen, die nicht für alle Flüchtlinge reichen, die integriert werden müssen, andererseits.

An einem Vormittag vor den Herbstferien sitzen Ramiz und Khabir im Jugendzentrum am S-Bahnhof. Sie würden auch gerne zur Schule gehen, sagen sie - um irgendwann arbeiten zu können. Ihre Träume: Hotelmanager, Zimmermann. Ihre Sprachkenntnisse reichen, um zu fragen: "Warum darf ich nicht in die Berufsschule gehen?"

Die soll auf Empfehlung der Bezirksregierung vor allem Minderjährige einschulen, vorrangig unbegleitete. Ramiz und Khabir sind wie Ramin alleine aus Afghanistan nach Deutschland gekommen, aber sie sind 19 und 20 - sagen die Behörden. Er sei eigentlich 15, sagt Khabir, sein Alter sei falsch geschätzt worden, außerdem sei sein Familienname, der wie die Namen aller Jugendlichen in dieser Geschichte nicht erwähnt werden soll, in seinen Ausweispapieren falsch geschrieben. Schnell so notiert, wie es sich für einen deutschen Beamten anhörte. Ein Indiz für Überlastung.

In der Berufsschule lernen sie gerade den Umgang mit der Säge - Sandra (r.) will als medizinische Fachangestellte arbeiten, Ramin (l.) als Elektroniker. (Foto: Peter Bauersachs)

Nach den Herbstferien gab es gute Nachrichten. Weil keine weiteren unbegleiteten Minderjährigen im Landkreis eingetroffen sind, hat die Berufsschule freie Plätze aufgefüllt, die Klassengröße wurde zudem von 16 auf 20 erhöht, Ramiz und Khabir haben jetzt einen Platz. "Wunderbar", sagt Maria Brand von der Aktionsgruppe Asyl, die darum lange gerungen hatte. Wunderbar, findet Johannes Kestler, der endlich positiv auf die vielen Mails antworten durfte, die ihm Flüchtlingshelfer auf der Suche nach Schulplätzen für Flüchtlinge schicken. Spricht man mit Helfern, hört man abenteuerliche Geschichten von zahlreichen Anfragen und monatelangem Warten auf den kostbaren Platz in der Schule. Die Nachricht von freien Plätzen in Erding sprach sich so schnell herum, dass Kestler zwei Wochen nach den Herbstferien sagt: "Ich muss wieder Menschen enttäuschen. Und das ist das Schlimmste." Am Dienstag kommen 14 Flüchtlinge zum Deutsch- und Rechentest. 14 Bewerber für 13 Plätze, die noch frei sind.

Und die Liste mit Anfragen in Keslters Mailfach ist noch lang. "Was bedeutet sozial gerecht?", fragt Kestler. Das sollen seine Schüler der 10. Klasse nun in Gruppen erarbeiten. Als Schulleiter Dieter Link Kestler vor dem vergangenen Schuljahr fragte, ob er sich vorstellen könne, die Berufsvorbereitung für Flüchtlinge zu koordinieren und die erste Klasse selbst zu unterrichten, fand er damals: "Das hat sich super spannend angehört. Und ich bin weltoffen." Seitdem besucht er regelmäßig Fortbildungen für interkulturelle Kompetenz oder den Umgang mit Traumatisierung. Dinge, die für viele Lehrer momentan beinahe wie selbstverständlich zum Beruf dazugehören. Die Lehrerverbände fordern Unterstützung, die sie langsam auch bekommen: mehr Personal, Dolmetscher, Psychologen. In der Berufsschule ist jeder der mittlerweile fünf Klassen ein Sozialpädagoge zugeteilt. 13 Lehrer sind in den Unterricht der Flüchtlinge eingebunden, vier Deutsch-Fachkräfte kommen von einem Kooperationspartner. Hier, wo die Schulturnhalle monatelang Erstaufnahmeeinrichtung war, gehören Flüchtlinge schlichtweg zum Alltag.

Die Lernmotivation sei beeindruckend, die Fortschritte mühsam, aber umso schöner. Kestler, dem die Leidenschaft für den Beruf in den wachen Augen glänzt, erzählt von einer Diskussion über soziale Gerechtigkeit am Ende des abgelaufenen Schuljahres - und klingt dabei wie ein Fußballer, der sich an das schönste Tor seiner Karriere erinnert: "Es ging um Steuererhöhungen für Großverdiener. Alle hatten eine Meinung und wollten sie loswerden. Das war wunderbar." Seine Zehntklässler in diesem Jahr sind noch nicht ganz so weit. Sie schreiben Assoziationen auf die Poster: Hilfsbereitschaft, Respekt.

Franz Konrad lehrt ihnen die deutsche Sprache. (Foto: Bauersachs)

Nach der Mittagspause, zwei Stockwerke tiefer, besucht Kestler den Praxisunterricht der 11. Klasse. Vor vier Wochen stand Maurer auf dem Lehrplan, jetzt Schreiner. Lehrer Franz Konrad hält ein Schild hoch, "Spannsäge" steht darauf. Alle Schüler melden sich, alle wissen, welcher Gegenstand gemeint ist. "Warum heißt die so?" - "Weil man das spannen kann." Auch im zweiten Jahr ist Deutschlernen noch wichtig, doch das Handwerk genauso. Während ihre Mitschüler Holzbarren zersägen, muss Sandra, 19, aus Ghana lachen. Sie will als medizinische Fachangestellte arbeiten. Das hier, " das macht nur Spaß".

Es ist natürlich nicht alles nur spaßig, nicht immer einfach und spätestens im September 2016 wird es ernst, sagt Konrad. Im September werden viele Flüchtlinge in Erding ihren Abschluss machen, doch was so ein Abschluss wert ist, hängt auch von den Arbeitgebern ab. In diesem Sommer haben drei Schüler schon nach dem ersten Schuljahr Ausbildungsplätze gefunden, einer als Feinmechaniker, einer als Maler, einer im Hotel. Doch Konrad will realistisch klingen. Er sagt: "Der Weg ist noch weit." Flüchtlinge in den Beruf zu bringen, das sei eine der größten Aufgaben für Berufsschulen in den nächsten Jahren.

Ramin habe, sagt er wörtlich, am Anfang "nur Bahnhof" verstanden. Jetzt erklärt er selbstbewusst, dass er Elektroniker werden möchte. Was er beim Vorstellungsgespräch wissen wird, ist ja klar: Gauck, so heißt der Bundespräsident.

© SZ vom 20.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: