Eine Frage der Ästhetik:Die Würde des Hässlichen

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Eugene Quinns "Ugly Places Tour" führt durch Aubing. Vieles ließe sich leicht verbessern, restlos aufräumen will der Geschmacksanarchist aber gar nicht

Von Julian Raff

Darf der das - einfach so durch eine wildfremde Stadt laufen und vor den Einheimischen ausgewählte Scheußlichkeiten schmähen, noch dazu in englischer Sprache? Natürlich darf der das. Eigentlich wollte man sich als cooler Großstadtmensch diese Spießerfrage auf Eugene Quinns "Ugly Places Tour" durchs einschlägig gesegnete Aubing-Süd nicht mal im Stillen gestatten. Trotzdem kratzt mancher Moment dieses passend schmuddeligen Nachmittages an der Schmerzgrenze, so charmant-unterhaltsam der in Wien lebende Brite sein Thema insgesamt auch angeht. Mancher Befund, etwa der, dass Auswärtige "nur hierher kommen, um Autos zu kaufen und zu verkaufen", klingt angesichts zahlloser Gebrauchtwagenhändler längs der Bodenseestraße erst einmal unausweichlich - aber auch bitter-überheblich. Hässliche Ecken gibt es ja schließlich überall.

Das Spiegelbild des Hässlichen. (Foto: Lukas Barth-Tuttas)

Genau, erklärt der Architektur-Aktivist gleich zu Beginn: Seine Touren führen grundsätzlich durch an sich schöne Städte, also Wien oder München; alles andere fände er überflüssig und respektlos. Und wie im Laufe des zweieinhalbstündigen Rundgangs durch Aubing-Westkreuz und Neuaubing immer klarer wird, geht es ihm um die unverzichtbare Rolle und Würde des Hässlichen im Schönen.

Ein erster Münchner Rundgang mit 120 Teilnehmern im vergangenen September führte folgerichtig in die City, deren architektonische Tiefpunkte die Münchner vorab per Internetumfrage ausgesucht hatten. Einheimische Hilfestellung für die zweite Tour leistete nun das Planungsreferat im Rahmen des Programms "Freiraumzeit". Das zwischen Pasing und dem prosperierenden Stadtteil Freiham gelegene "Sanierungsgebiet" hatten die Stadtplaner eher willkürlich ausgewählt, "vernachlässigte" Zonen hätten sich natürlich auch anderswo gefunden. Auf jeden Fall mutig findet Quinn die Kooperationsbereitschaft der Stadt, verglichen etwa mit der Wiener Gewerbeaufsicht. Die hatte ihm wegen fehlender Fremdenführer-Lizenz gleich zwei Mal ein Bußgeld aufgebrummt - und damit seine Aktionen ebenso unfreiwillig wie effizient beworben. Längst darf Quinn eine wachsende Fangemeinde ganz legal durch "ugly Vienna" führen.

Monströse Glascontainer stechen in Aubing ins Panorama. (Foto: Lukas Barth)

In Aubing versammelt sich mit mehr als einem Dutzend Teilnehmern erst einmal ein vergleichsweise überschaubares Publikum - und erfährt gleich, dass vieles im Quinn'schen Sinne eher "boring" als "ugly" ist, also ohne jede ästhetische Ambition gemacht. "Ugliness" - der spektakulär gescheiterte Versuch, Schönes zu schaffen - findet sich für ihn eher im Stadtzentrum. Umso mehr wird die Stadtrandtour zur Schule des Sehens, wo es auf den ersten Blick nichts zu sehen gibt: Warum versperren die Altglascontainer an der Mainaustraße den Blick auf eine der wenigen Grünanlagen im Viertel? Wieso verbarrikadiert sich ein Grundstücksbesitzer hinter einem Dreifachzaun aus Stahlgitter, Holzspalier und Thujenhecke, der nach ein paar Metern in einfachen Maschendraht übergeht, so dass ihm doch jeder ins Grundstück schauen kann? Warum haben die Planer die Sichtfront des Kindergartens an der Thuisbrunner Straße brav nach Süden ausgerichtet, so dass die Kleinen nun den Autohändler-Parkplatz vor der Nase haben und die Grünfläche im Rücken? Und warum rennt sich, wer größer ist als 1,90 Meter, in der Unterführung Bodensee/ Limesstraße den Schädel ein? Das städtebauliche Klein-Klein steckt voller Absurditäten.

Bitterböse, versöhnlich: Eugene Quinn auf der Suche nach Unschönem. (Foto: Lukas Barth-Tuttas)

Vieles ließe sich leicht verbessern, restlos aufräumen will Quinn aber gar nicht. Leidenschaftlich preist er den Verhau des Grünzugs am Überlinger Weg mit seinen wild wuchernden Hecken. Kinder oder knutschende Teenies brauchten "places to hide". Nichts findet er schlimmer als einen aus Angst vor Kriminalität, Terror oder Verwahrlosung leer gefegten öffentlichen Raum. Das Chaos erfüllt seine sozial-ästhetische Doppelfunktion, die Hässlichkeit sowieso: Unschöne Gebäude lassen die schönen erst im Kontrast erstrahlen und bleiben für die Mieter hoffentlich länger bezahlbar. Außerdem ist ja bekanntlich fein raus, wer aus dem hässlichen Haus auf ein schönes gegenüber schaut. Von postmoderner Beliebigkeit, die alle Kriterien einebnet, hält Quinn dabei nichts und serviert dem Publikum lieber lustvoll seine radikal subjektiven Geschmacksurteile: Die Achtzigerjahre waren das Allerletzte - kann man so sehen, muss man nicht.

Schwieriger wird es, wenn ausgerechnet ein Wahl-Wiener sagt: "I hate baroque!" und die Asamkirche in der Sendlinger Straße zu den Münchner Architektur-Ausrutschern zählt. Der Bürgerstolz ist angeknackst, damit aber auch der eingefahrene Denkreflex : "Neu ist hässlich" versus "Alt ist schön".

Geschmacksanarchist Quinn glaubt jedenfalls grundsätzlich nicht an die Würde alter Gemäuer und ermutigt jeden zum Selber-Sehen, auf dass die Debatte nie ende. Manchmal überlässt er sich aber auch nur dem ihm eigenen, britisch-wienerischen Anarcho-Schmäh: Vor einer verwüsteten, kratertief ausgehobenen Baugrube mutmaßt Quinn, dort sei der obligatorische Bombenfund wohl schon hochgegangen. Gleich drauf entdeckt er eine Pfütze, referiert kurz über den Wert urbaner Schlammteiche für die frühkindliche Sozialisation - und springt hinein, dass der Schmodder die knallorangen Hosenbeine nur so hochspritzt.

© SZ vom 25.03.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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