Vaterstetten:Und zweitens kommt es anders...

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Die Hürde im Auge, der Wille im Blick: Gerhard Zorn knackte im Zehnkampf den bayerischen Rekord in seiner Altersklasse. (Foto: Werner Meschede)

Gerhard Zorn vom TSV Vaterstetten wollte eigentlich seinen Senioren-Weltmeistertitel im 400-Meter-Sprint verteidigen. Stattdessen bricht er in seiner Altersklasse den bayerischen Rekord im Zehnkampf

Von Carolin Schneider, Vaterstetten

Gerhard Zorn läuft gerade seine Runden auf dem Vaterstettener Sportplatz, er joggt gemütlich und locker, keine Ähnlichkeit mit den Geschwindigkeiten, die der Leichtathlet bei einem 400-Meter-Sprint zeigt. "Ich bin Kurzstreckenläufer", sagt Zorn ein wenig später beim Treffen auf der Tribüne, ein bisschen außer Atem ist er schon. Am liebsten läuft er 100, 200 oder 400 Meter, mit regelmäßigen Joggingeinheiten hält er sich dafür fit. Und fit ist er auf jeden Fall: Der 61-Jährige holte sich in letzter Zeit einige Meister-Titel.

Erst 2016 wurde er in Australien Senioren-Weltmeister im 400-Meter-Sprint und war deshalb für die Europameisterschaft in diesem Jahr der Favorit. Doch dann kam alles anders: Bei den Deutschen Meisterschaften im Juli lief er im 100-Meter-Finale Kopf an Kopf mit seinem ewigen Konkurrenten. "Wir kabbeln uns immer gegenseitig, aber natürlich nur freundschaftlich", erzählt Zorn. Plötzlich spürte er einen stechenden Schmerz im Oberschenkel, konnte kein Tempo mehr machen - und lief als Zweiter ins Ziel ein. "Ich habe gleich gewusst: Das ist ein Muskelfaserriss", erinnert sich Zorn. Etwas anderes stand für ihn auch gleich fest: Bei der Europameisterschaft, die vier Wochen später in Aarhus in Dänemark stattgefunden hat, wird er nicht mitmachen können. "Die Verletzung muss ja erst mal heilen", so Zorn. "Und außerdem fiel das Training auch aus."

Regelmäßig trainiert er am Abend, wenn er von seinem Bürojob nach Hause kommt. "Den Sport brauche ich als Ausgleich von meinem Beruf", sagt Zorn. Im Winter jogge er mehr, im Sommer mache er Sprinttraining. Das fiel aufgrund der Verletzung plötzlich weg. Doch die Tickets nach Aarhus waren schon gebucht und konnten nicht mehr storniert werden, deshalb fuhr Zorn mit seiner Frau nach Dänemark und verbrachte den Großteil seines Urlaubs trotzdem im Stadion - nur eben auf den Zuschauerrängen. Traurig, dass er nicht mitmachen konnte, war Zorn aber nicht: "Zu dem Zeitpunkt hatte ich es schon verdaut." Zorn hat durch die Teilnahme an vielen Wettbewerben in den letzten Jahren einen internationalen Bekanntenkreis, den er nur bei Europa- oder Weltmeisterschaften trifft. "Das Wiedersehen war groß, egal ob ich jetzt mitgelaufen bin oder nicht", erinnert sich Zorn, und fügt dann lachend hinzu: "Die haben ja auch alle ihre Krankengeschichten zu erzählen."

Doch es gab eine Sache, die Zorn in den Fingern juckte: Den 400-Meter-Lauf gewann der Brite Steve Peters mit einer Zeit, die Zorn selbst auch ab und zu laufe. "Zumindest wenn ich trainiert bin." Mit dieser Zeit stand Peters plötzlich an erster Stelle der Weltjahresbestenliste. Zorns Ehrgeiz war geweckt: Er wollte wissen, ob er die Zeit, die der Europameister gelaufen ist, toppen kann. Doch ein direkter Vergleich, ein weiterer Wettkampf, an dem auch der Brite teilnahm, war nicht in Sicht. "Ich entschloss mich also für einen indirekten Vergleich", so Zorn.

Der Zehnkampf in Herzogenaurach Ende September bot ihm dazu Gelegenheit. Dort wollte er zuerst nur den ersten Tag mit fünf Disziplinen mitmachen. "Ich dachte mir, danach fahre ich dann als Weltjahresbester nach Hause." Dann kamen jedoch die Zweifel: Das Training fiel in den Monaten davor aufgrund der Verletzung eher mau aus, ob ein 400-Meter-Sprint möglich ist, war ungewiss. "Ich habe mich also umentschieden", erzählt Zorn. "Und beschlossen, den gesamten Zehnkampf als Gaudi mitzumachen." Zusammen mit dem TSV in Vaterstetten konnte er nach Herzogenaurach fahren. "Insgeheim habe ich natürlich immer noch gehofft, die 400-Meter-Zeit zu toppen", gibt Zorn zu. Der 61-Jährige stand nun jedoch vor einem neuen Problem: "Noch nie in meinem Leben habe ich Stabhochsprung oder Hürdenlauf gemacht." Zwei Disziplinen, die im Zehnkampf gefragt sind. Zuerst habe er sich überlegt, die beiden einfach auszulassen. "Doch dann habe ich erfahren: Ein Zehnkämpfer muss in allen Disziplinen punkten", so Zorn. "Das ist eine Frage der Ehre." Also begann Zorn, zu trainieren. Trainer und Vereinsmitglieder vom TSV Vaterstetten gaben dem 61-Jährigen Tipps und halfen ihm beim Training.

Vor einigen Jahren war der Ayinger Zorn zum TSV Vaterstetten gekommen. "Ich wollte schon als Kind Leichtathletik machen", sagt er. "Aber damals gab es keinen Verein bei mir in der Nähe." Erst als er dann vor ein paar Jahren ein Plakat für Senioren-Leichtathletik entdeckte, wurde das Feuer wieder neu entflammt und er begann zu trainieren. Der Kurzstreckenläufer hat sich dann allerdings auf Sprint konzentriert und die anderen Disziplinen kaum mehr trainiert. Bis zur Anmeldung beim Zehnkampf. "Ich wusste nicht, ob das klappen wird", räumt Zorn ein.

Es hat jedoch geklappt: Beim Zehnkampf in Herzogenaurach glänzte Zorn plötzlich in den meisten Disziplinen. Nur beim 400-Meter-Sprint, Zorns Spezialgebiet, konnte er Peters Zeit von der Europameisterschaft um 0,02 Sekunden nicht toppen. "Da denkt man sich dann irgendwie auch: Hätte ich das während des Laufs gewusst, das hätte ich doch noch irgendwie rausholen können", sagt Zorn. Aber er habe den Zehnkampf letztendlich als Spaß gesehen und holte sich dennoch insgesamt 7043 Punkte. Diese Punkte dürfe man jedoch nicht falsch interpretieren, fügt Zorn trotz seiner Freude hinzu: In seiner Altersklasse werfen die Athleten mit leichteren Kugeln, Speeren und Disken und springen über niedrigere Hürden. "Deshalb schwingt man sich da dann zu solchen Höhen auf", erklärt er. Trotzdem war er überrascht vom Ergebnis, denn während des Wettkampfes hatte er das Gesamtergebnis nicht im Blick.

Zuhause dann die nächste Überraschung: Ein Freund klärte ihn auf, dass er mit der im Zehnkampf erworbenen Punktzahl den Bayerischen Rekord von 2003 getoppt hat. "Darüber habe ich mich natürlich schon gefreut", sagt Zorn. Hingefahren sei er in der Erwartung, Jahresbester im 400-Meter-Sprint zu werden. Zurückgekommen sei er dann mit dem erstaunlichen Ergebnis im Zehnkampf. "Da ist man dann natürlich stolz auf sich", erzählt Zorn. Nächstes Jahr ist die Weltmeisterschaft in Spanien, dort möchte der 61-Jährige hinfahren. "Ich muss doch meinen Weltmeister-Titel verteidigen", sagt er grinsend, dann steht er auf, geht zurück auf den Sportplatz und fängt wieder an, dort seine Runden zu drehen.

© SZ vom 28.10.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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