Vaterstetten:Musik der inneren Emigration

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Strenge Mienen, makelloses Musizieren: Das Borodin-Quartett verbreitete im Seniorenwohnpark eine frostige Atmosphäre, aber höchsten Kunstgenuss. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Das Borodin-Quartett spielt emotionale Leidensmusik von Dmitri Schostakowitsch distanziert, Beethovens Streichquartett und Große Fuge durchsichtig und fein abgestuft

Von Claus Regnault, Vaterstetten

Es wehte kühl vom Podium beim Auftritt der vier Musiker des Borodin Quartetts, als hätten sie den russischen Winter mitgebracht. Kein Begrüßungslächeln, welches auch im weiteren Verlauf des Konzerts nur in homöopathischen Dosen die Strenge ihres Blickes etwas milderte. Stattdessen eine kurze Musterung des Publikums, fast so, als seien Saal und Zuhörerschaft dieses Ensembles nicht ganz würdig. Diese spröde Atmosphäre blieb das Konzert über spürbar. Die vier Streicher hatten ein Programm mitgebracht, welches sich durch Kürze auszeichnete. Im ersten Teil das 4. Streichquartett D-Dur op. 83 von Dmitri Schostakowitsch, nach der Pause das frühe Streichquartett D-Dur op. 18 Nr. 3 von Ludwig van Beethoven und dessen "Große Fuge für Streichquartett B-Dur op. 133".

Das Schostakowitsch-Quartett ist in unseren Konzertsälen selten zu hören, aber es nimmt unter den 15 Streichquartetten dieses Komponisten doch einen eigenen Rang ein. Schostakowitsch, der zu Lebzeiten Stalins nicht nur die Kritik des Politbüros, ja Stalins selbst zu fürchten hatte, musste in der ständigen Angst vor Abschiebung leben. Zwar hat er auch 15 Symphonien komponiert, von denen die zweite bis zwölfte stark von den politischen Verhältnissen beeinflusst sind, pflichtgemäß die Revolutionen und insbesondere die Vatergestalt Lenins feiern. Aber mit dem, was er als Komponist eigentlich sagen wollte, zog er sich auf die Kammermusik zurück, eine Art "innerer Emigration", welcher Begriff für die unter der Nazi-Herrschaft in Deutschland verbliebenen Künstler geprägt wurde. So sind die beiden ersten Sätze des vierten Quartetts Leidensmusik von starker Emotionalität, während das Finale eine fasst heroische Kraft aus ostjüdischer Folklore zieht. Die Interpretation durch die Borodins wirkte etwas distanziert, was laut Programmheft der programmatischen Absicht des jetzigen Ensembles im Vergleich zu früheren Aufnahmen des Quartett-Zyklus der Borodin-Vorgänger entspricht, wohl aber nicht dem auch in diesem Quartett stark emotionalen Charakter dieser Musik.

Nach der Pause dann Beethoven. In den ersten drei Sätzen ist es eher ein harmlos freundlicher Nachklang des Rokoko, erst im Finale wird die explosive Vitalität Beethovens zum übersprudelnden Ereignis, Demonstrationsobjekt der überzeugenden Virtuosität der Borodins, die mit Ruben Aharonian, 1. Geige, Sergei Lomovsky, 2. Geige, Igor Naidin, Bratsche, Vladimir Balshin, Cello, gleichrangig besetzt sind. Dennoch: Zwar kann man die ungeheuere Entwicklung Beethovens durch Gegenüberstellung dieses frühen Quartetts mit der "Großen Fuge" von 1826 demonstrieren, aber für diesen Zweck wäre es doch wünschenswert gewesen, wenn die Borodins durch Wiedergabe des ganzen B-Dur Quartetts op. 130 den Beweis für die Besonderheit der finalen Großen Fuge geliefert hätten. Denn dieses Finale war nicht nur für die Zeitgenossen Beethovens ein unverständlicher Exzess, so dass der Komponist auf Wunsch seines Verlegers einen freundlicheren Schlusssatz hinzu komponieren musste. Diese Fuge ist auch für uns heute ein außergewöhnliches Hörerlebnis. Seine Sprache, dissonanzenreich, kühn und widerborstig, entzieht sich noch immer dem, was man von der musikalischen Klassik gewöhnt ist. So als sei der Komponist Zeitgenosse der modernen Musik geworden.

Das Borodin-Quartett brachte das Werk technisch makellos, in der Verstrickung der Linien durchsichtig und in feinster dynamischer Abstufung zur Aufführung. Der anhaltende Beifall für diese meisterliche Wiedergabe führte zu einer Zugabe, dem "Morgengebet" aus dem Kinderalbum von Piotr Tschaikowskj, eine jener verführerischen Melodien, wie sie für diesen Komponisten typisch sind. Sie dauerte ganze zwei Minuten und war damit die kürzeste Zugabe in der langen Geschichte der Rathauskonzerte.

© SZ vom 23.04.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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