Politik:Mutter Courage und ihre Tochter

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Ein Foto von der Kundgebung gegen Rechts nach dem Überfall auf einen Döner-Imbiss vor zwei Jahren. (Foto: Photographie Peter Hinz-Rosin)

Maria und Anna Weininger positionieren sich im Netz gegen Rechtspopulismus

Von Johanna Feckl, Ebersberg

Am Abend des 24. September war Maria Weininger fassungslos. Sie half in ihrem Wohnort beim Auszählen der Stimmen zur Bundestagswahl. Die AfD holte im Wahlkreis Erding-Ebersberg 11,9 Prozent aller Zweitstimmen. Das sind 0,7 Prozent weniger als im Bundesdurchschnitt. "Ich kenne die Leute hier, ich kenne deren Lebensumstände. Da ist keiner in seiner Existenz bedroht", sagt sie.

Die Entscheidung der vielen Menschen aus ihrer Gemeinde, ihr Kreuz trotzdem bei der AfD zu setzen, das ließ der 61-Jährigen keine Ruhe. In einem offenen Brief schrieb sie daraufhin die Fragen auf, die sie seitdem umtreiben: "Was sind eigentlich Eure Probleme? Welche Probleme sind es, die ausgerechnet die AfD lösen soll?" Weininger schickte ihre von Empörung und Enttäuschung gezeichneten Worte an die Ebersberger SZ und die Ebersberger Zeitung, die beide den Leserbrief veröffentlichten. Wenig später stellte die Tochter der 61-Jährigen, Anna Weininger, das Meinungsstück auf der Social Media-Plattform Facebook ein. Die Reaktionen auf den Brief überschlagen sich seitdem.

Um die 100 Rückmeldungen erreichten Maria Weininger bislang per E-Mail, Telefon oder auf persönlichem Wege. "Mich haben Leute angerufen und mir auf's Band gesprochen, die ich gar nicht kenne." Jede einzelne dieser Reaktionen war ein Zuspruch. Mehrmals hörte die 61-Jährige, sie habe mit ihren Worten vielen aus der Seele gesprochen. "Ich bin völlig perplex, was das für eine Dynamik entwickelt hat."

Auch die AfD teilte den Brief auf ihrer Facebook-Seite

Online sorgt der Brief sogar für eine noch größere Welle an Reaktionen. Auf Facebook klickten über 400 Nutzerinnen und Nutzer den "Gefällt mir"-Button unter dem von Weiningers Tochter geposteten Brief, fast 200 teilten ihn bislang auf ihren eigenen Profilen - darunter auch der AfD-Kreisverband Erding-Ebersberg. In Weiningers Kommentarspalte finden sich viele Stimmen, die so oder so ähnlich wohl auch Maria Weininger persönlich erreichten. "Absolute Punktlandung! Sehr gut!", heißt es etwa in einem Kommentar. Eine Frau schrieb: "Da hast du wirklich die richtigen Worte gefunden bei all unserer Sprachlosigkeit nach diesem Wahlergebnis!"

Neben Zusprüchen gibt es ebenso zahlreiche Kommentare, deren Tenor die gegenteilige Richtung einschlägt. "Der AfD-Wähler schaut halt über den Tellerrand von Ebersberg hinaus", "Wie peinlich ist dieser Brief denn Bitteschön" oder "Typische Anti-AfD-Hetzparolen eines blinden Gutmenschen, der noch nie einen Blick in die Polizeistatistiken geworfen zu haben scheint" - so lauten einige der kürzeren kritischen Beiträge. Andere, ausführlichere sehen durch das behauptete Totalversagen der etablierten Parteien die AfD als gerechtfertigte Alternative.

Doch Anna Weininger hält vehement dagegen. "Zum Teil stimmen die Zahlen ja nicht einmal", sagt sie. So bewegt viele Kommentatoren der angebliche Anstieg an Vergewaltigungen von fast 50 Prozent und der Zuwachs von Taten, die Zuwanderern zugerechnet werden, um 91 Prozent. Beides bezieht sich auf die vom bayerischen Innenminister Joachim Herrmann (CSU) kurz vor der Bundestagswahl vorgestellte Kriminalitätsstatistik, die die angezeigten Delikte der ersten Jahreshälfte 2017 in Bayern mit den Vorjahreszahlen vergleicht.

Viele Fakten werden nur verkürzt wiedergegeben

Weininger wird nicht müde, solche und andere Behauptungen mit Argumenten, Fakten und Belegen als das zu entlarven, was sie sind: mindestens verkürzt, manchmal sogar falsch. So hatte Herrmann allgemein von "Vergewaltigungen" gesprochen, obwohl seine vorgestellten Zahlen auch Tatbestände der sexuellen Nötigung umfassen, wie etwa "Grapschen", also das Anfassen intimer Körperstellen, ohne dass dies mit einer Beleidigung, Nötigung, Gewalt oder Androhung von Gewalt geschieht.

Tatsächlich stiegen die "überfallartigen Vergewaltigungen" in Bayern in der ersten Jahreshälfte 2017 im Vergleich zum Vorjahr um weniger als fünf Prozent an. Dabei wuchs die Zahl der tatverdächtigen Zuwanderer von neun im Jahr 2016 auf aktuell 17 bei insgesamt 68 beziehungsweise 71 angezeigten Vergewaltigungen. Ein Anstieg, ja, aber nicht in der angenommenen Dimension.

Hinzu kommt, darauf weist Anna Weiniger hin, dass bei den genannten Zahlen das seit 10. November 2016 geltende verschärfte Sexualstrafrecht zu berücksichtigen sei, wodurch nun mehr Delikte als strafbar gelten als vor der Gesetzesreform. Eine Vergewaltigung etwa war zuvor nur strafrechtlich relevant, wenn das Opfer sich körperlich verteidigte. Inzwischen reicht ein "Nein". Ein direkter Vergleich der Delikte beider Jahre ist somit irreführend.

"Ich wünsche mir einen faktenbasierten Dialog", sagt Anna Weininger. Das bedeute für sie, mit Beweisen dagegen zu halten, wenn mit falschen Thesen argumentiert wird. Die 32-Jährige gibt zu, dass sie das selbst nicht immer gemacht hat. "Die Diskussion findet aber jetzt unter meinem Profilbild statt." Wenn dort verdrehte Wahrheiten kursieren, dürfe sie nicht einfach still bleiben. Das möchte sie auch zukünftig nicht mehr - egal, unter welchem Profilfoto solche Kommentare stehen.

Und warum die ganze Mühe? Anna Weininger ist sich sicher, dass man diejenigen, die im Netz mit irrigen Thesen um sich werfen, nicht mehr vom Gegenteil überzeugen kann. Aber die, die stumm mitlesen und sich aus Unsicherheit von solch hetzerischen Parolen mitreißen lassen, "die kann man erreichen". Auch die Mutter der 32-Jährigen sieht das so. Sie würde sich wünschen, dass viel mehr Leute klare Kante gegen Rechtspopulisten zeigen. "Ich will denen nicht das letzte Wort überlassen."

© SZ vom 10.10.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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