Plädoyer:Bühnenverbot für Allzweckwaffe

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Der Kirchseeoner Jazz-Bassist Martin Zenker löst im Internet eine heiße Debatte um das "iRealbook" aus

Von Ulrich Pfaffenberger, Kirchseeon

Seit Wochen nur gute Nachrichten von Martin Zenker aus der Mongolei. Ein Facebook-Post nach dem anderen berichtet vom guten Vorankommen des Goethe-Musiklabors in UIan-Bator, das der Jazz-Bassist aus Kirchseeon leitet. Dann, aus heiterem Himmel, eine Statusmeldung, die in der Szene ein Gewitter auslöst: "From now on I refuse to play on stage when there is an iRealbook on the same stage! Please shoot me if I break this promise!" Nimmt man den ironischen Unterton heraus, dass da einer erschossen werden möchte, wenn er es auf der Bühne neben einem iRealbook aushalten sollte, dann stellt sich vor allem eine Frage: Was ist das für ein Ding, das den sonst eher gemütsruhigen Zenker derart in Wallung versetzt?

Wer sich auch nur ein klein wenig in Jazzfragen auskennt, weiß, dass das "Realbook" für den Jazzmusiker in etwa das ist, was dem Pfarrer das Brevier: gesammeltes Grundlagenwissen zum gelegentlichen Nachschlagen und zur regelmäßigen Reflexion. Nur, dass dort eben nicht das Wort Gottes aufbereitet ist, sondern die sogenannten "Standards", also jene Werke und ihre Spielweisen, die über Generationen den Jazz geprägt haben und bis heute prägen. Zwangsweise, wie immer in Biotopen, die noch nicht erstarrt sind, verändern sich die Inhalte. Vollständig sind sie sowieso nie, "richtig" im Sinne von "eindeutig und zweifelsfrei" auch nicht. Hier ist schließlich von Jazz die Rede, nicht von DIN-Normen.

Gleichwohl, unaufhaltsamer Lauf der Weltdigitalisierung, hat dieses Realbook nun seinen Weg auch aufs iPhone gefunden - einschließlich wohlfeiler Empfehlungen und Simulationen, die dem lebenslang lernenden Musiker Inspiration und Hilfe sein könnten. Wenn denn nicht, und das bringt Zenker auf die Palme, die menschliche Bequemlichkeit aus dem geistigen Impuls eine technische Allzweckwaffe gemacht hätte. Nicht wenige Musiker fühlen sich, so seine Beobachtung, nunmehr berufen, über ihre Verhältnisse zu spielen und "Ja, kenne ich" zu sagen, obwohl ihnen ein Stück wesensfremd ist. Einfach, weil sie auf die technische Hilfe vertrauen. Mit der üblen Begleiterscheinung, dass die Geräte dann plötzlich während dem Gig zu läuten und zu piepsen anfangen, weil ihre Besitzer vergessen haben, die Telefone stummzuschalten.

Die Häufung solcher Vorfälle hat bei Zenker, wie er im entspannten Gespräch berichtet, "den Schalter umgelegt und den Post ausgelöst". Er sah ein unüberbrückbares Missverständnis bezüglich der Rolle des Realbook und des musikalischen Miteinanders bei einer Session - und wollte daran künftig nicht mehr teilhaben. Den Aufruhr im Posting-Wald, den seine Statusmeldung auslöste, hatte er dabei weder beabsichtigt noch vorausgesehen. Rund um die Welt meldeten sich Jazzer zu Wort. Die Vorwürfe, manche von ihnen ebenfalls missverständlich, reichten von "Ignoranz des technischen Fortschritts" über "übertriebene Empfindlichkeit" bis hin zu "religiöse Dogmatik". Zeitweise fochten die Diskutanten im klassischen call and response ihre Positionen zum Auswendigspielen oder zum "playing by heart" aus, regelmäßig gingen Argumente off beat, um ehrwürdige Zeugen für ihre Meinung zu berufen, zum Beispiel Schlagzeuger Joe Chambers: "Ey, Baby, I play the tunes, not the tempos..." Oder sie improvisierten darüber, ob die Identität eines Stücks in seiner Melodie stecke oder in seinen Harmonien. Eine klassische Session letztlich, wobei statt Instrumenten Worte erklangen.

Für seine eigentliche Überlegung zum iRealbook sieht Zenker die Diskussion noch lange nicht erledigt, obwohl sich der Online-Aufruhr inzwischen wieder gelegt hat. Er selbst nutze das iRealbook als "rudimentäre Hilfe, um mir was in Erinnerung zu rufen". Aber es ersetze niemals die Auseinandersetzung mit einem Stück, denn die Information sei oft fehlerhaft oder zumindest lückenhaft. Abgesehen davon fehlten in der Regel jegliche Angaben zu Codas oder Intros, was speziell mit Sängern zu Problemen führe. Es geht Zenker aber um mehr: "Der Respekt vor den Komponisten und ihren Werken, genauso wie vor den Mitmusikern und dem Publikum, erfordert es aus meiner Sicht, dass jeder auf der Bühne mit den Themen und Tunes der Stücke vertraut ist, die da gespielt werden. Die Musik ist besser, wenn wir wissen, was wir tun", sagt er. "Ein vermeintlich allwissendes Tool wie das iRealbook verleitet dazu, diese Vertrautheit vorzugaukeln, obwohl sie nicht vorhanden ist."

Ehrlicher sei es, die Unkenntnis zu bekennen und sich untereinander auf Stücke oder Tonarten zu verständigen, die jeder Anwesende beherrsche. Die unendlichen Weiten des Jazz seien groß genug, um auf dieser Basis noch immer abendfüllende Programme zusammen zu bekommen. "Es ist besser, wir nutzen beim Spielen die Ohren als einen Monitor", so Zenkers Überzeugung.

© SZ vom 17.03.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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